Honig
Postkarte war klar. Bei seinem heroischen Versuch, die Kluft zwischen Kunst und Logik zu überbrücken, war er auf mich angewiesen, und ich hatte ihn in die falsche Richtung losrennen lassen. Seine Geschichte hinkte, sie war unlogisch, und es rührte mich, dass er das nicht erkannte. Aber wie konnte ich ihm sagen, dass seine Geschichte [303] nichts taugte, wenn ich selbst – zumindest teilweise – dafür verantwortlich war?
Denn die schlichte, für mich so selbstverständliche und für ihn so nebulöse Wahrheit war die: Das indische Paar aus Zimmer 403 erhöht die Chancen für 402 in keiner Weise. Die beiden können nicht dieselbe Rolle spielen wie Monty Hall in seiner Fernsehshow. Dass sie aus diesem Zimmer kommen, ist reiner Zufall, während Montys Entscheidungen eingeschränkt sind, durch den jeweiligen Kandidaten determiniert. Monty lässt sich nicht durch einen Zufallsgenerator ersetzen. Hätte Terry sich für 403 entschieden, hätten die Inder und ihr Baby sich nicht einfach in ein anderes Zimmer zaubern können, um dann aus einer anderen Tür zu kommen. Nach ihrem Auftauchen ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich Terrys Frau in Zimmer 402 befindet, gleich groß wie für 401. Terry könnte als genauso gut bei seiner ursprünglichen Wahl bleiben und die erste Tür eintreten.
Doch später am Vormittag, als ich über den Flur ging, um mir beim Servierwagen einen Tee zu holen, begriff ich plötzlich, woher Toms Denkfehler kam. Ich war schuld! Ich blieb abrupt stehen und hätte die Hand vor den Mund geschlagen, wäre mir in dem Augenblick nicht ein Mann entgegengekommen, der eine Tasse mit Untertasse trug. Ich sah ihn, war aber zu abgelenkt, zu schockiert von meiner Erkenntnis, um ihn richtig wahrzunehmen. Ein gutaussehender Mann mit abstehenden Ohren, der jetzt seinen Schritt verlangsamte und mir den Weg versperrte. Max natürlich, mein Chef, mein einstiger Vertrauter. Stand noch eine Einsatzbesprechung an?
[304] »Serena. Alles in Ordnung?«
»Ja. Entschuldige. Ich war in Gedanken…«
In merkwürdig buckliger Haltung blieb er stehen, vielleicht lag es an der Art, wie das übergroß geschnittene Tweedjackett über seine knochigen Schultern fiel. Er sah mich eindringlich an. Seine Tasse klapperte auf der Untertasse, bis er sie mit seiner freien Hand zurechtrückte.
Er sagte: »Ich finde, wir sollten mal miteinander reden.«
»Sag mir wann, dann komme ich in dein Büro.«
»Nicht hier. Nach der Arbeit, bei einem Drink, oder wir gehen essen oder so.«
Ich schob mich an ihm vorbei. »Gerne.«
»Freitag?«
»Freitag kann ich nicht.«
»Dann Montag.«
»Ja, in Ordnung.«
Nach ein paar Metern drehte ich mich halb um, winkte ihm mit den Fingern kurz zu, ging weiter und vergaß ihn auf der Stelle. Denn mir fiel jetzt wieder ein, was ich am Wochenende im Restaurant gesagt hatte. Ich hatte Tom gesagt, dass Monty, nachdem der Kandidat seine Wahl getroffen hat, unter den beiden verbliebenen Kisten willkürlich eine leere auswählt. Und das konnte natürlich in zwei Dritteln aller Fälle nicht stimmen. Monty kann nur eine leere, vom Kandidaten nicht gewählte Kiste öffnen. In zwei von drei Fällen ist die Wahl des Kandidaten auf eine leere Kiste gefallen. Und dann bleibt Monty nur noch eine, die er nehmen muss. Nur wenn der Kandidat richtig geraten und die Kiste mit dem Preis genommen hat, bleiben Monty zwei leere Kisten, zwischen denen er sich willkürlich [305] entscheiden kann. Natürlich wusste ich das alles, hatte es aber nicht gut erklärt. Toms Geschichte war missglückt, und ich war schuld. Ich hatte ihn auf die Idee gebracht, dass das Schicksal die Rolle eines Gameshow-Moderators übernehmen könne.
Nun fühlte ich mich doppelt schuldig, und mir wurde klar, dass ich Tom nicht einfach sagen konnte, seine Geschichte funktioniere nicht. Es lag an mir, eine Lösung zu finden. Statt in der Mittagspause wie üblich aus dem Haus zu gehen, blieb ich an meiner Schreibmaschine sitzen und nahm Toms Geschichte aus der Handtasche. Während ich ein neues Blatt Papier einspannte, stieg leise Freude in mir auf, und als ich zu tippen anfing, Begeisterung. Ich hatte eine Idee, ich wusste jetzt, wie Tom das Ende der Geschichte so umschreiben konnte, dass Terry die Tür eintritt, die seine Chancen, seine Frau mit einem anderen Mann im Bett zu überraschen, tatsächlich verdoppelt. Als Erstes strich ich die Inder und ihr Baby mit der Hasenscharte raus. So sympathisch sie waren, in diesem Drama hatten sie nichts
Weitere Kostenlose Bücher