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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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die vertraute Zugfahrt, die Straßen von Brighton, diese unfassbar winzigen Hotels. Die Inder und ihr Baby mit der Hasenscharte wurden als Bewohner von Zimmer 403 engagiert. Ihre freundliche, verletzliche Erscheinung diente als Kontrast zu dem brünstigen Paar im Zimmer nebenan. Tom hatte ein Thema aufgegriffen, von dem er so gut wie nichts verstand (»Nur ein Idiot würde an seiner ersten Entscheidung festhalten«!); er wollte es sich zu eigen machen, und wenn er meine Vorschläge übernahm, dann würde ihm das auch gelingen. Mit einem Kunstgriff hatte er aus Terry einen besseren Mathematiker gemacht, als sein Schöpfer einer war. Auf der einen Ebene sah man ganz deutlich, wie diese verschiedenen Elemente zusammengeschüttet und eingesetzt wurden. Doch es blieb ein Geheimnis, wie sie sich zu etwas Zusammenhängendem und Plausiblem verbanden, wie aus den Zutaten ein so köstliches Gericht entstand. Der Gedanke zerstob, und während ich den Gestaden des Schlafs zutrieb, glaubte ich dem Trick fast auf die Spur gekommen zu sein.
    [309] Etwas später klingelte es an der Tür, ein Geräusch, das in meinem Traum den Höhepunkt einer komplizierten Abfolge von merkwürdigen Zufällen markierte. Der Traum verflog, und ich hörte es noch einmal klingeln. Ich rührte mich nicht, in der Hoffnung, die anderen würden nach unten gehen. Schließlich lagen ihre Zimmer näher an der Haustür. Beim dritten Klingeln machte ich Licht und sah auf meinen Wecker. Zehn vor Mitternacht. Ich hatte eine Stunde geschlafen. Wieder klingelte es, nachdrücklicher jetzt. Ich zog Morgenmantel und Pantoffeln an und ging die Treppe hinunter, zu müde, mich zu fragen, warum ich mich eigentlich beeilen sollte. Vermutlich hatte eine der drei anderen ihren Schlüssel vergessen. Wäre nicht das erste Mal. Unten im Flur spürte ich die Kälte des Linoleums durch meine Pantoffelsohlen. Ich legte die Sicherheitskette vor, dann öffnete ich die Tür einen Spalt weit. Ein Mann stand auf der Türstufe, aber ich sah sein Gesicht nicht. Er trug einen gangsterhaften Filzhut und einen gegürteten Regenmantel, auf seinen Schultern glänzten Regentropfen im Licht der Straßenlaterne hinter ihm. Erschrocken drückte ich die Tür zu. Da hörte ich eine vertraute Stimme leise sagen: »Entschuldigen Sie die Störung. Ich muss mit Serena Frome sprechen.«
    Ich hakte die Kette aus und öffnete die Tür. »Max. Was soll das?«
    Er hatte getrunken. Er schwankte leicht, und seine sonst so beherrschten Züge waren ganz aufgelöst. Als er sprach, roch es nach Whisky.
    »Du weißt, warum ich hier bin«, sagte er.
    »Nein, das weiß ich nicht.«
    [310] »Ich muss mit dir reden.«
    »Morgen, Max, bitte.«
    »Es ist dringend.«
    Ich war jetzt hellwach und wusste, wenn ich ihn fortschickte, würde ich nicht wieder einschlafen können; also ließ ich ihn rein und führte ihn in die Küche. Ich machte auf dem Gasherd zwei Flammen an. Es war die einzige Wärmequelle.
    Er setzte sich an den Tisch und nahm den Hut ab. An den Hosenbeinen, unterhalb der Knie, hatte er Schlammspritzer. Vermutlich war er zu Fuß quer durch die Stadt gekommen. Er machte einen leicht verstörten Eindruck, seine Mundwinkel hingen herab, die Haut unter den Augen war bläulich schwarz. Ich überlegte, ob ich ihm etwas Heißes zu trinken machen sollte, entschied mich aber dagegen. Es ärgerte mich, dass er sich als mein Vorgesetzter aufspielte, der das Recht hatte, mich aus dem Bett zu klingeln. Ich setzte mich ihm gegenüber und sah zu, wie er mit dem Handrücken sorgfältig den Regen von seinem Hut wischte. Er schien darauf bedacht, nicht betrunken zu wirken. Ich war angespannt und fröstelte, und zwar nicht nur wegen der Kälte. Ich nahm an, Max werde mir noch mehr Schlechtes von Tony erzählen. Aber der war tot und ein Verräter, was sollte da noch Schlimmeres kommen?
    »Du musst doch wissen, warum ich hier bin«, sagte er.
    Ich schüttelte den Kopf. Er belächelte, was er für eine lässliche kleine Lüge hielt.
    »Als wir uns heute im Flur getroffen haben, da wusste ich, dass du genau dasselbe gedacht hast wie ich.«
    »Ach ja?«
    [311] »Serena, gib’s zu. Wir haben es beide gewusst.«
    Er sah mich ernst und inständig an, und plötzlich glaubte ich zu wissen, was jetzt kam, und sackte innerlich zusammen vor Überdruss: jetzt musste ich es mir anhören, nein sagen und das dann alles klären. Und zukünftig irgendwie damit umgehen.
    Trotzdem sagte ich: »Ich kann dir nicht folgen.«
    »Ich musste meine

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