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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Brighton-Wochenende im Dezember gab Tom mir Aus dem Tiefland von Somerset zu lesen. Ich ging damit ins Schlafzimmer und las es noch einmal sorgfältig durch. Er hatte etliche Kleinigkeiten geändert, aber mein Eindruck war nach wie vor derselbe. Ich sah unserem Gespräch darüber mit Bangen entgegen, denn ich würde mich nicht verstellen können, das wusste ich. Am Nachmittag machten wir einen Spaziergang in den Sussex Downs. Ich sprach über die Gleichgültigkeit des Romans gegenüber dem Schicksal von Vater und Tochter, über die moralische Verkommenheit der Nebenfiguren, das Elend der Städter, die Verwahrlosung der verarmten Landbevölkerung, die allgemeine Hoffnungslosigkeit, die grausame, freudlose Atmosphäre, die deprimierende Wirkung all dessen auf den Leser.
    Toms Augen leuchteten. Ich hätte ihm kein größeres Lob aussprechen können. »Genau!«, sagte er immer wieder. »Richtig. Ganz richtig. Du hast es erfasst!«
    Ich hatte ein paar Tippfehler und Wiederholungen angestrichen, wofür er sich fast schon übertrieben bedankte. Im Lauf der nächsten Woche machte er noch einen leichten Überarbeitungsdurchgang – und dann war er fertig. Er fragte, ob ich ihn begleiten wolle, wenn er das Buch zu [319] seinem Verleger bringe, und ich sagte, es werde mir eine Ehre sein. An Heiligabend, dem ersten meiner drei freien Tage, kam er am Vormittag nach London. Wir trafen uns an der U-Bahn-Station Tottenham Court Road und gingen zusammen zum Bedford Square. Ich sollte den Manuskriptpacken tragen, das werde ihm Glück bringen. Hundertsechsunddreißig Seiten, erklärte er mir stolz, zweizeilig auf altmodisches Kanzleipapier getippt. Auf dem Weg musste ich ständig an die Schlussszene denken, wo das kleine Mädchen unter Qualen auf dem nassen Fußboden eines ausgebrannten Kellers stirbt. Eigentlich wäre es meine Pflicht gewesen, den Umschlag mit dem Elaborat in die nächste Mülltonne zu stopfen. Aber gleichzeitig war ich ebenso aufgeregt wie er und barg die düstere Geschichte wie mein – wie unser – Baby sorgsam an meiner Brust.
    Am liebsten hätte ich Weihnachten gemütlich zu zweit mit Tom in der Brightoner Wohnung verbracht, aber ich war nach Hause bestellt worden und mein Zug fuhr am Nachmittag. Ich war seit Monaten nicht mehr bei meinen Eltern gewesen. Meine Mutter hatte am Telefon kategorisch darauf bestanden, sogar der Bischof hatte ins selbe Horn gestoßen. Ich war nicht rebellisch genug, um ihnen das abzuschlagen, schämte mich aber, als ich Tom davon erzählte. Schon über zwanzig und ich hatte mich von meiner Kindheit noch immer nicht ganz abgenabelt. Er jedoch, als freier, erwachsener Mann Ende zwanzig, hatte für meine Eltern Verständnis. Natürlich wollten sie mich sehen, natürlich sollte ich fahren. Es sei meine Pflicht als Erwachsene, das Weihnachtsfest mit ihnen zu verbringen. Er selbst wollte am fünfundzwanzigsten zu seiner Familie nach [320] Sevenoaks und war entschlossen, seine Schwester Laura aus dem Wohnheim in Bristol zu holen, ihre Kinder und sie um den elterlichen Weihnachtstisch zu versammeln und zu versuchen, sie vom Trinken abzuhalten.
    Während ich den Umschlag nach Bloomsbury trug, dachte ich daran, dass wir nur ein paar Stunden hatten und uns dann mehr als eine Woche nicht sehen würden, da ich am siebenundzwanzigsten gleich wieder zur Arbeit musste. Unterwegs brachte er mich auf den neusten Stand. Ian Hamilton von der New Review hatte sich gemeldet. Tom hatte Vermutlich Ehebruch nach meinen Vorschlägen umgearbeitet und zusammen mit der Geschichte vom sprechenden Affen eingeschickt. In seinem Antwortbrief schrieb Hamilton, Vermutlich Ehebruch sei nichts für ihn, »das ganze logische Zeug« sei ihm zu hoch und er bezweifle, dass »außer einem Mathegenie irgendjemand etwas damit anfangen« könne. Den redseligen Affen hingegen finde er »nicht schlecht«. Tom war sich nicht sicher, ob dies eine Zusage war. Er wollte sich im neuen Jahr mit Hamilton treffen und nachfragen.
    Tom Maschlers Büro, oder Bibliothek, lag im ersten Stock einer georgianischen Villa mit Blick auf den Bedford Square. Man hieß uns dort warten. Als der Verleger beinahe im Laufschritt hereinstürmte, war ich es, die ihm den Roman überreichte. Er warf ihn auf den Schreibtisch hinter sich, gab mir feuchte Küsse auf beide Wangen und Tom überschwenglich die Hand, beglückwünschte ihn, geleitete ihn zu einem Stuhl und begann ihn auszufragen, wobei er die Antwort auf eine Frage kaum abwartete, eher er die

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