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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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verraten würde.
    »Altmodische Vorstellung.«
    »Vergiss nicht, ich bin geistiges Mittelmaß.«
    »Das Ende steckt schon im Anfang. Serena, es gibt keine Handlung. Das Buch ist eine Meditation.«
    Er sorgte sich auch um den Ablauf der Lesung. Wer sollte als Erster lesen, Amis oder Haley? Wie entschied man so etwas?
    »Amis. Die Hauptattraktion kommt immer zum Schluss«, sagte ich loyal.
    »O Gott. Wenn ich nachts aufwache und an diese Lesung denke, kann ich nicht mehr einschlafen.«
    »In alphabetischer Reihenfolge, das wär doch was.«
    »Nein, ich meine, sich auf eine Bühne stellen, etwas [357] vorlesen, das die Leute ohne weiteres auch selber lesen können. Ich begreife nicht, wozu das gut sein soll. Da bricht mir nachts der Schweiß aus.«
    Wir gingen zum Strand hinunter, Tom wollte Steine ins Meer werfen. Er war seltsam aufgekratzt. Wieder spürte ich seine Unruhe, eine unterdrückte Aufregung. Ich saß an einen Kieselhaufen gelehnt, während er mit den Füßen Steine herumschob und nach geeigneten Wurfgeschossen suchte. Immer wieder nahm er kurz Anlauf und schleuderte die Steine weit in den leichten Nebel hinaus, wo der geräuschlose Aufprall bloß als blasser weißer Fleck zu ahnen war. Nach zehn Minuten setzte er sich neben mich, atemlos und verschwitzt, und seine Küsse schmeckten salzig. Allmählich wurden unsere Küsse leidenschaftlicher, und beinahe hätten wir vergessen, wo wir waren.
    Da nahm er mein Gesicht in beide Hände und sagte: »Hör zu, was auch immer geschieht, du musst wissen, wie gern ich mit dir zusammen bin.«
    Mir wurde angst und bange. So etwas sagt im Kino der Held zu seiner Liebsten, bevor er zum Sterben in die Ferne zieht.
    Ich sagte: »Was auch geschieht?«
    Er bedeckte mein Gesicht mit Küssen und presste mich gegen die unbequemen Steine. »Ich will damit sagen, dass sich das nie ändern wird. Du bist etwas ganz, ganz Besonderes.«
    Ich ließ mich beruhigen. Wir befanden uns fünfzig Meter unterhalb der Promenade, und wir waren kurz davor, hier und jetzt miteinander zu schlafen. Ich wollte es genauso sehr wie er.
    [358] Ich sagte: »Nicht hier.«
    Aber er hatte einen Plan. Er legte sich auf den Rücken und machte seinen Hosenschlitz auf, und ich streifte meine Schuhe ab, zog Strumpfhose und Slip aus und stopfte sie in meine Manteltasche. Ich setzte mich auf ihn und drapierte Rock und Mantel um uns zurecht. Sobald ich mich ein wenig bewegte, begann er zu stöhnen. Von der Promenade aus, meinten wir, würde das einigermaßen harmlos aussehen.
    »Halt kurz still«, sagte er hastig, »sonst ist es gleich vorbei.«
    Er war so schön, wie er da lag und zu mir aufschaute. Sein Haar, das auf die Steine fiel. Wir sahen uns in die Augen. Wir hörten die Autos auf der Küstenstraße und gelegentlich das Plätschern einer kleinen Welle.
    Einen Augenblick später sagte er mit kühler, tonloser Stimme: »Serena, lass uns zusammenbleiben. Es führt kein Weg daran vorbei, ich muss es dir sagen. Ganz einfach. Ich liebe dich.«
    Ich wollte das Gleiche sagen, aber meine Kehle war wie zugeschnürt, ich bekam nur ein Ächzen heraus. Seine Worte brachten uns auf der Stelle und zusammen zum Höhepunkt, unsere Lustschreie gingen im Rauschen vorbeifahrender Autos unter. Bisher hatten wir es vermieden, diesen Satz auszusprechen. Er war zu folgenschwer, er bezeichnete die Linie, die zu überschreiten wir uns gehütet hatten, den Übergang von einer sorglosen Affäre zu etwas Ernstem und Unbekanntem, das beinahe einer Last gleichkam. So fühlte es sich jetzt allerdings gar nicht an. Ich hob sein Gesicht nah an meines, küsste ihn und wiederholte seine Worte. Es war [359] ganz einfach. Dann stieg ich von ihm ab, zog mich, auf den Steinen kniend, wieder an und wusste dabei: Bevor diese Liebe sich wirklich entfaltete, würde ich ihm die Wahrheit über mich erzählen müssen. Und das würde die Liebe beenden. Also konnte ich es ihm nicht erzählen. Aber ich musste.
    Danach lagen wir Arm in Arm im Dunkeln und kicherten wie Kinder über unser Geheimnis, über den Streich, der uns da gelungen war. Wir lachten über die Tragweite der Worte, die wir ausgesprochen hatten. Alle anderen waren an Regeln gebunden, wir waren frei. Wir würden uns auf der ganzen Welt lieben, unsere Liebe wäre überall. Wir setzten uns auf und rauchten gemeinsam eine Zigarette. Dann merkten wir, dass wir vor Kälte zitterten, und traten den Heimweg an.

[360] 19
    Im Februar senkte sich Schwermut über meine Abteilung. Das gelegentliche

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