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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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sich von [351] mir abgewandt hatte? Nein. Warum also durfte ich nicht mit Tom zusammen sein? Hatte ich mein Glück etwa nicht verdient?
    Zwei Tage später saß ich nach fast zweiwöchiger Trennung voller Vorfreude im Freitagabendzug nach Brighton. Tom holte mich vom Bahnhof ab. Er sah mich schon bei der Einfahrt des Zuges, lief neben meinem Waggon her und rief etwas, das ich nicht verstand. Nichts in meinem Leben war jemals so beglückend gewesen wie die Sekunde, als ich aus dem Zug in seine Arme sank. Er umarmte mich so fest, dass mir fast die Luft wegblieb.
    Er flüsterte mir ins Ohr: »Mir wird gerade erst klar, was für ein besonderer Mensch du bist.«
    Ich flüsterte zurück, wie sehr ich diesen Augenblick herbeigesehnt habe. Als wir uns voneinander lösten, nahm er meine Tasche.
    »Du siehst irgendwie anders aus«, sagte ich.
    »Ich bin anders!« Er schrie beinahe und lachte wild. »Ich hab eine phantastische Idee.«
    »Kannst du mir davon erzählen?«
    »Was ganz Verrücktes, Serena.«
    »Dann erzähl’s mir.«
    »Gehen wir nach Hause. Elf Tage. Viel zu lang!«
    Also gingen wir in die Clifton Street, wo der Chablis in einem silbernen Eiskübel wartete, den Tom bei Asprey’s gekauft hatte. Eiswürfel im Januar waren eine seltsame Idee. Im Kühlschrank wäre der Wein kälter geblieben, aber wen kümmerte das? Wir tranken ihn, während wir uns gegenseitig auszogen. Natürlich hatte uns die Trennung angeheizt, [352] und der Chablis befeuerte uns wie immer, doch das war beides keine hinreichende Erklärung für die Stunde, die folgte. Wir waren wie zwei Fremde, die genau wussten, was sie zu tun hatten. Toms Zärtlichkeiten hatten etwas Sehnsuchtsvolles, was mich dahinschmelzen ließ. Es grenzte an Leid und weckte in mir mächtige Beschützerinstinkte, auf einmal ging mir, während wir auf dem Bett lagen und er meine Brüste liebkoste, der Gedanke durch den Kopf, ob ich ihm irgendwann vorschlagen sollte, die Pille abzusetzen. Aber ich wollte kein Kind, ich wollte ihn. Als ich sein festes, kompaktes Hinterteil packte und ihn zu mir heranzog, erschien er mir wie ein Kind, das mir gehören und das ich verhätscheln und niemals aus den Augen lassen würde. Ähnliche Gefühle hatte ich vor langer Zeit bei Jeremy in Cambridge gehabt, aber damals hatte ich mich getäuscht. Jetzt hingegen tat diese Empfindung, Tom ganz und gar zu besitzen, fast weh, als liefen alle guten Gefühle, die ich jemals gehabt hatte, in einer extrem scharfen Pfeilspitze zusammen.
    Das war keine jener lauten, verschwitzten Nummern, die auf eine zeitweilige Trennung folgen. Ein zufälliger Voyeur hätte durch den Spalt zwischen den Schlafzimmervorhängen nur ein wenig experimentierfreudiges Paar in Missionarsstellung gesehen, das kaum einen Ton von sich gab. Unsere Ekstase hielt den Atem an. Aus Furcht, loszulassen, wagten wir uns kaum zu bewegen. Dieses eigenartige Gefühl, dass er jetzt ganz mir gehörte und, ob er wollte oder nicht, immer mir gehören würde, war schwerelos, leer, ich konnte es jederzeit von mir weisen. Ich fühlte mich furchtlos. Er küsste mich zärtlich und flüsterte immer wieder [353] meinen Namen. Vielleicht war jetzt, wo er nicht wegkonn-te, der Zeitpunkt, es ihm zu sagen. Sag’s ihm, dachte ich. Sag ihm, was du tust.
    Doch als wir aus unserem Traum erwachten, als die äußere Welt wieder auf uns einströmte und wir den Verkehr auf der Straße und einen Zug in den Bahnhof von Brighton einfahren hörten, als wir anfingen, Pläne für den Rest des Abends zu schmieden, erkannte ich, wie nahe ich der Selbstzerstörung gewesen war.
    An diesem Abend gingen wir nicht ins Restaurant. Milde Luft war ins Land gezogen, zur Erleichterung der Regierung vermutlich und zum Ärger der Bergarbeiter. Tom war unruhig und wollte einen Spaziergang am Meer machen. Also gingen wir die West Street hinunter und die breite, menschenleere Promenade entlang Richtung Hove, einmal bogen wir ab, um in einen Pub einzukehren, ein andermal, um Fish and Chips zu kaufen. Selbst unten am Meer war es windstill. Die Straßenlaternen leuchteten zwecks Energieeinsparung nur schwach, schmierten aber trotzdem ein galliges Orange an die tiefhängenden Wolken. Was genau an Tom anders war, wusste ich nicht zu sagen. Liebevoll war er ja, er nahm meine Hand, wenn er mir etwas erklärte, oder legte mir den Arm um die Schulter und zog mich an sich. Wir gingen flott und sprachen schnell. Weihnachten bei ihm, bei mir. Er schilderte die Szene, den furchtbaren Abschied

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