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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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doch einig, dass wir unseren Autoren nicht reinreden können.«
    »Na ja, was gefällt dir denn so daran?«
    »Er ist ein wunderbarer Schriftsteller. Es ist alles sehr aufregend.«
    Fast hätte ich hinzugefügt, dass wir uns liebten. Aber [366] Tom und ich wollten das nicht an die große Glocke hängen. Als Kinder unserer Zeit hatten wir auch keine Vorstellungsbesuche bei den Eltern geplant. Wir hatten uns, irgendwo am Strand zwischen Brighton und Hove, unter freiem Himmel unsere Liebe erklärt, und so sollte sie bleiben, einfach und rein.
    Immerhin wurde mir in dieser kurzen Besprechung mit Max klar, dass etwas zwischen uns in Schieflage geraten war. In jener Nacht vor Weihnachten hatte er etwas von seiner Autorität und seiner Würde verspielt, das war ihm bewusst, und er wusste, dass ich es wusste. Ich konnte mir den auftrumpfenden Tonfall nicht verkneifen, und er nicht verhindern, dass er abwechselnd devot und allzu scharf klang. Am liebsten hätte ich ihn nach seiner Zukünftigen gefragt, der Medizinerin, die er meinetwegen verlassen hatte. Hatte sie ihn zurückgenommen oder schon einen Neuen? Demütigend wäre beides, und selbst in meinem euphorischen Zustand war ich klug genug, die Frage für mich zu behalten.
    Wir schwiegen beide. Max trug, wie mir schon vor ein paar Tagen in der Kantine aufgefallen war, keine dunklen Anzüge mehr, sondern wieder groben Harris-Tweed und – eine unschöne Neuerung – zu einem karierten Viyella-Hemd eine senfgelbe Strickkrawatte. Ich vermutete, dass niemand, jedenfalls keine Frau, ihn bei der Kleiderwahl beriet. Er betrachtete den Rücken seiner Hände vor ihm auf dem Schreibtisch. Dabei atmete er mit einem pfeifenden Geräusch tief durch die Nase ein.
    »Ich weiß inzwischen Folgendes. Wir haben zehn Projekte, Haley mitgerechnet. Angesehene Journalisten und Wissenschaftler. Die Namen kenne ich nicht, aber ich habe [367] eine ungefähre Ahnung, an was für Büchern sie gerade schreiben. Einer untersucht, wie biologische Forschungen in Großbritannien und den USA die Grüne Revolution in den Reisanbau-Ländern der Dritten Welt eingeläutet haben. Einer schreibt eine Biographie über den Aufklärer Tom Paine. Noch einer beschäftigt sich als Erster überhaupt mit einem Gefangenenlager in Ostberlin, Speziallager Nr. 3, in dem die Sowjets in den Nachkriegsjahren Sozialdemokraten, Kinder und Nazis ermordet haben und das jetzt von den DDR -Behörden ausgebaut wurde, um dort Dissidenten und andere missliebige Personen zu internieren und psychisch zu foltern. In Arbeit sind auch ein Buch über die politischen Katastrophen im postkolonialen Afrika, eine Neuübersetzung der Gedichte der Achmatowa sowie eine Abhandlung über europäische Utopien des siebzehnten Jahrhunderts. Ferner eine Monographie über Trotzki als Oberbefehlshaber der Roten Armee, und dann noch ein paar, die ich vergessen habe.«
    Endlich sah er von seinen Händen auf, der Blick aus seinen hellen Augen war hart.
    »Und welchen Scheiß-Beitrag leistet dein T. H. Haley mit seiner kleinen Endzeit-Phantasie zu unserem Wissen, oder zu irgendwas, was uns sonst wichtig ist?«
    Ich hatte ihn noch nie fluchen hören, und ich zuckte zusammen, als hätte er mir irgendetwas ins Gesicht geworfen. Bis jetzt hatte mir Aus dem Tiefland von Somerset nicht gefallen, jetzt aber schon. Ohne wie sonst auf ein Zeichen zu warten, dass ich gehen konnte, stand ich auf und schob den Stuhl unter den Schreibtisch, um mich aus dem Zimmer zu zwängen. Gern hätte ich mich mit einer [368] schlagfertigen Replik verabschiedet, aber mir fiel keine ein. Schon halb durch die Tür, warf ich einen Blick zurück und sah Max stocksteif hinter seinem Schreibtisch im spitzen Winkel des winzigen Büros sitzen, das Gesicht zu einer seltsamen Grimasse, wie einer Maske, verzerrt, und plötzlich sagte er leise: »Serena, bitte geh nicht.«
    Ich ahnte, was für eine schreckliche Szene als Nächstes kommen würde. Also nichts wie raus. Ich hastete über den Flur, und als er mir nachrief, ging ich noch schneller, auf der Flucht vor seinem Gefühlschaos, aber auch vor meinen eigenen unsinnigen Schuldgefühlen. Bevor ich weiter unten aus dem knarzenden Lift stieg und zu meinem Schreibtisch zurückkehrte, rief ich mir ins Gedächtnis, dass ich nicht allein war, dass ich geliebt wurde, dass nichts, was Max sagen mochte, mir noch etwas anhaben konnte, und dass ich ihm nichts schuldig war.
    Binnen Minuten war ich wieder in die düstere, zerknirschte Atmosphäre von Chas

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