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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Schwätzchen zwischendurch war tabu und fand nicht mehr statt. Unter unseren Mänteln trugen wir neuerdings Morgenröcke oder Strickjacken und arbeiteten auch in den Tee- und Mittagspausen durch, als wollten wir für unser Versagen Abbitte leisten. Der Führungsbeamte Chas Mount, normalerweise ein gutgelaunter, unerschütterlicher Mensch, schleuderte eine Aktenmappe gegen die Wand, und eine Kollegin und ich mussten eine Stunde lang auf dem Fußboden knien, um die Blätter aufzusammeln und wieder in die richtige Reihenfolge zu bringen. Für uns war das Versagen unserer Agenten, Pik und Helium, unser eigenes. Vielleicht hatte man ihnen zu nachdrücklich eingeschärft, ihre Tarnung zu schützen, oder sie hatten tatsächlich nichts gewusst. So oder so – das sagte Mount immer wieder und in immer neuen Variationen – hatten dermaßen riskante und kostspielige Aktionen einfach keinen Sinn, wenn sich direkt vor unserer Haustür eine solche Greueltat ereignen konnte. Es stand uns nicht zu, ihm zu sagen, was er ohnehin bereits wusste, nämlich dass wir es mit Zellen zu tun hatten, die vollkommen unabhängig voneinander operierten, dass unser Gegner, laut einem Times -Leitartikel, die »am besten organisierte, [361] skrupelloseste Terroristenbande der Welt« war. Und schon damals gab es mächtige Konkurrenz um diesen Titel. Dann wieder stieß Mount rituelle Verwünschungen gegen die Londoner Polizei und die Royal Ulster Constabulary aus, die unter Geheimdienstmitarbeitern so alltäglich waren wie das Vaterunser. Zu viele vertrottelte Polizisten, die keinen Schimmer von Informationsbeschaffung oder -analyse hatten, so der Tenor, nur dass man es zumeist mit stärkeren Ausdrücken formulierte.
    »Vor unserer Haustür« war in diesem Fall ein Autobahnabschnitt der M62 zwischen Huddersfield und Leeds. Im Büro hörte ich jemanden sagen, ohne den Lokführerstreik hätten die Soldaten und ihre Familien nicht den Nachtbus genommen. Aber es waren nicht die Gewerkschaften, die den Tod gebracht hatten. Die 25-Pfund-Bombe war im Gepäckfach des Busses versteckt und löschte mit einem Schlag eine ganze Familie aus, die auf den hinteren Sitzen schlief, einen Soldaten, seine Frau und ihre zwei Kinder im Alter von fünf und zwei Jahren. In einem Umkreis von hundert Metern fand man Körperteile von ihnen auf der Straße verstreut, wie es in einem der Zeitungsausschnitte hieß, die Mount unbedingt ans Schwarze Brett heften wollte. Er hatte selbst zwei nur wenig ältere Kinder, und auch darum war unsere Abteilung gezwungen, diese Sache persönlich zu nehmen. Dabei war es alles andere als klar, ob der MI 5 primär dafür verantwortlich war, terroristische Aktionen der Provisorischen IRA auf der britischen Hauptinsel zu verhindern. Wenn wir wirklich dafür zuständig gewesen wären, so redeten wir uns ein, wäre so etwas nie passiert.
    Ein paar Tage später kündigte der Premierminister – [362] entnervt, sichtlich erschöpft und aufgedunsen von einer nicht diagnostizierten Schilddrüsenerkrankung – in einer Fernsehansprache vorgezogene Neuwahlen an. Edward Heath brauchte ein neues Mandat, die Frage, so sagte er uns, die wir uns stellen müssten, sei: Wer regiert Großbritannien? Unsere gewählten Volksvertreter oder eine Handvoll Extremisten in der Bergarbeitergewerkschaft? Die eigentliche Frage, das wusste das Land, lautete: wieder Heath oder wieder Wilson? Der Premierminister, von den Ereignissen in die Enge getrieben, oder der Oppositionsführer, der – entsprechende Gerüchte waren sogar bis zu uns Mädchen gedrungen – erste Anzeichen von Demenz zeigte. »Wer ist der Unpopulärere?«, fragte ein Witzbold in einem Leitartikel. Seit fast zwei Monaten galt die Dreitagewoche. Es war zu kalt, zu dunkel, wir waren zu niedergeschlagen, um uns über unsere demokratische Verantwortung Gedanken zu machen.
    Unmittelbar betrübte mich, dass ich an diesem Wochenende nicht nach Brighton konnte, weil Tom in Cambridge war und von dort weiter zu meiner Schwester fahren wollte. Er hatte mich gebeten, nicht zu seiner Lesung zu kommen. Es würde ihn »fertigmachen«, mich unter den Zuhörern zu wissen. Am Montag kam ein Brief von ihm. Mein Blick verweilte bei der Anrede – Liebes. Er sei froh, dass ich nicht gekommen sei, schrieb er. Die Lesung sei eine Katastrophe gewesen. Martin Amis – ein sympathischer Mensch übrigens – war es egal, wer von ihnen zuerst las. Also ließ Tom ihm den Vortritt, um nach ihm als Hauptattraktion zu glänzen. Ein

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