Honig
seiner Schwester von ihren Kindern und wie sie versucht hatte, ihr Töchterchen mit der Fußprothese ins Auto zu zerren; wie Laura dann auf der ganzen Fahrt nach Bristol geweint und schreckliche Dinge über die Familie gesagt hatte, besonders über die Eltern. Ich erzählte von dem [354] Augenblick, als der Bischof mich in die Arme geschlossen und ich in Tränen ausgebrochen war. Tom ließ sich die Szene in allen Einzelheiten beschreiben. Er wollte mehr über meine Gefühle erfahren, was ich auf dem Weg vom Bahnhof nach Hause empfunden hatte. Fühlte ich mich wieder als Kind, erkannte ich plötzlich, wie sehr mir mein Zuhause fehlte? Wie lange hatte ich gebraucht, um mich davon zu erholen, und warum wollte ich später nicht mit meinem Vater darüber reden? Ich sagte, ich könne mir auch nicht erklären, warum ich plötzlich so weinen musste.
Wir blieben stehen, und Tom küsste mich und sagte, ich sei ein hoffnungsloser Fall. Als ich ihm von meinem nächtlichen Spaziergang um die Kathedrale mit Lucy und Luke erzählte, las er mir die Leviten. Ich solle ihm versprechen, nie wieder Cannabis zu rauchen. Diese puritanische Anwandlung überraschte mich, und so leicht es mir gefallen wäre, ein solches Versprechen zu halten, zuckte ich bloß mit den Schultern. Ich fand, er hatte kein Recht, so etwas von mir zu verlangen.
Ich fragte ihn nach seiner neuen Idee, aber er wich aus. Stattdessen berichtete er, was es vom Bedford Square Neues gab. Maschler sei von Aus dem Tiefland von Somerset begeistert und wolle es schon Ende März herausbringen, der schnellste Schnellschuss in der Geschichte des Verlagswesens und nur möglich, weil der Verleger über enormen Einfluss verfügte. Der Hintergedanke dabei war, rechtzeitig vor dem Stichtag für den Jane-Austen-Literaturpreis zu erscheinen. Der war mindestens so renommiert wie der vor wenigen Jahren eingeführte Booker-Preis, und die Chancen, auf die Shortlist zu kommen, waren denkbar gering, [355] aber offenbar erzählte Maschler überall von seinem neuen Autor. Und dass das Buch eigens für die Jury schnellstmöglich zum Druck befördert werden sollte, war auch schon von einigen Zeitungen erwähnt worden. So brachte man ein Buch ins Gespräch. Ich fragte mich, was Pierre davon halten würde, dass der Geheimdienst den Autor einer antikapitalistischen Novelle förderte. Immer schön kleine Brötchen backen. Ich sagte nichts und drückte Toms Arm.
Wir setzten uns auf eine Bank und schauten wie ein altes Ehepaar aufs Meer hinaus. Eigentlich hätte ein abnehmender Halbmond zu sehen sein sollen, aber der hatte keine Chance gegen den schweren Deckel aus orangegelbem Gewölk. Toms Arm lag um meine Schulter, der Ärmelkanal ölig, still und stumm vor uns, ich lehnte mich an meinen Geliebten und fühlte mich zum ersten Mal seit Tagen innerlich ruhig. Tom erzählte, er sei zu einer Lesung nach Cambridge eingeladen worden, einem Abend für junge Autoren, zusammen mit Kingsley Amis’ Sohn Martin. Der würde aus seinem Debütroman lesen, der wie der von Tom noch dieses Jahr erscheinen sollte – ebenfalls bei Maschler.
»Was ich danach mache«, sagte Tom, »hängt ganz von deiner Erlaubnis ab.« Er würde am Tag nach der Lesung gerne mit dem Zug in meine Heimatstadt weiterfahren und mit meiner Schwester reden. »Mir schwebt da eine Figur vor, die am Rand der Gesellschaft lebt, sie schlägt sich irgendwie durch, aber recht erfolgreich, sie glaubt an Tarotkarten und Astrologie und so was, nimmt Drogen, aber in Maßen, glaubt an allerlei Verschwörungstheorien. Zum Beispiel, dass die Mondlandung in einem Studio inszeniert wurde. Zugleich ist sie auf anderen Gebieten absolut [356] vernünftig, sie ist ihrem kleinen Sohn eine gute Mutter, sie demonstriert gegen den Vietnamkrieg, ist eine verlässliche Freundin und so weiter.«
»Das hört sich nicht ganz nach Lucy an«, sagte ich und ruderte sofort zurück, weil ich mir kleinlich vorkam. »Aber sie ist wirklich sehr nett und wird sicher gern mit dir reden. Eine Bedingung. Ihr redet nicht über mich.«
»In Ordnung.«
»Ich werde ihr schreiben, du bist ein guter Freund von mir und brauchst ein Bett für die Nacht, weil du pleite bist.«
Wir gingen weiter. Tom war noch nie öffentlich aufgetreten und entsprechend nervös. Bei der Lesung wollte er den Schluss seines Buchs vortragen, auf den war er besonders stolz: die schreckliche Szene, wo Vater und Tochter sich in den Armen liegen und sterben. Ich sagte, ich fände es schade, wenn er das Ende
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