Honig
ich ihn denn bekam, um eine Art dauerhafter Strafe handelte, von Tony aus der Ferne über mich verhängt. Aus einem Treppenhaus wehte ein undefinierbarer Geruch herauf. Ich vertrieb mir die Zeit, indem ich seine vielen Komponenten zu identifizieren versuchte. Parfum, Zigaretten, Putzmittel auf [55] Ammoniakbasis und irgendetwas Organisches, das vielleicht früher einmal essbar gewesen war.
Zu meinem ersten Vorstellungsgespräch empfing mich eine energische und freundliche Frau namens Joan, ich musste hauptsächlich Formulare ausfüllen und einfache Fragen zu meinem Lebenslauf beantworten. Eine Stunde später saß ich wieder im selben Zimmer mit Joan und einem militärisch aussehenden Mann namens Harry Tapp, der sich unter seinem rötlichen Chaplin-Schnurrbart eine Zigarette nach der anderen ansteckte, die er aus einem schmalen goldenen Etui zog. Ich mochte seine altmodisch knappe Sprechweise, und wie er leise mit den gelben Fingern seiner Rechten trommelte, wenn er etwas sagte, und sie ruhen ließ, wenn er zuhörte. Binnen fünfzig Minuten konstruierten wir zu dritt ein Charakterprofil für mich. Im Wesentlichen war ich Mathematikerin mit einigen dazu passenden Interessen. Aber wie um alles in der Welt hatte ich nur einen so schlechten Abschluss gemacht? Ich log oder verdrehte wie gewünscht und erklärte, im letzten Jahr hätte ich mich – leichtsinnig, in Anbetracht meines Arbeitspensums – fürs Schreiben, für die Sowjetunion und das Werk Solschenizyns zu interessieren begonnen. Mr. Tapp wollte mehr darüber erfahren, also trug ich meine Ansichten vor, ich hatte auf Anraten meines entschwundenen Liebhabers noch einmal meine alten Artikel durchgelesen. Außerhalb der Universität stammte das Ich, das ich mir erfand, ohnehin vollständig aus meinem Sommer mit ihm. Wen hatte ich denn sonst? Manchmal war ich Tony. Wie sich zeigte, hatte ich eine Leidenschaft für die englische Provinz, insbesondere für Suffolk und einen prächtigen Wald mit uralten [56] Kopfweiden, zwischen denen ich gern umherstreifte und im Herbst Steinpilze sammelte. Joan kannte sich mit Steinpilzen aus, und Tapp hörte ungeduldig zu, während wir rasch einige Rezepte austauschten. Von Pancetta hatte sie noch nie gehört. Tapp fragte, ob ich mich jemals für Chiffriermethoden interessiert hätte. Nein, aber dafür umso mehr für die politische Aktualität, gestand ich. Im Schnellverfahren gingen wir die Themen des Tages durch – die Streiks der Berg- und Hafenarbeiter, den europäischen Binnenmarkt, das Chaos in Belfast. Ich redete wie ein Times -Leitartikler, zitierte nachdenklich klingende, patrizische Meinungen, denen man kaum widersprechen konnte. Als die Rede zum Beispiel auf die »permissive Gesellschaft« kam, führte ich die Ansicht der Times an, die sexuelle Freiheit des Individuums müsse ihre Grenzen dort haben, wo es um das Bedürfnis der Kinder nach Geborgenheit und Liebe gehe. Wer konnte dagegen etwas einzuwenden haben? Allmählich kam ich in Fahrt. Ich erzählte von meiner Leidenschaft für die Geschichte Englands. Wieder horchte Harry Tapp auf. Welche Epoche besonders? Die Glorreiche Revolution. Ach, das war jetzt aber sehr interessant! Und später, was hatte ich für intellektuelle Vorbilder? Ich nannte Churchill, nicht als Politiker, sondern als Historiker (kurz fasste ich seine »unvergleichliche« Schilderung der Schlacht von Trafalgar zusammen), als Literaturnobelpreisträger und nicht zuletzt als Aquarellmaler. Vor allem ein wenig bekanntes Gemälde von ihm hatte es mir seit je angetan: Marrakesch, Wäsche auf dem Dach, soviel ich wusste, befand es sich heute in Privatbesitz.
Auf eine Bemerkung von Tapp hin kleckste ich auf mein [57] Selbstporträt zusätzlich noch eine Leidenschaft für Schach, ohne zu erwähnen, dass ich seit über drei Jahren nicht mehr gespielt hatte. Er fragte, ob ich mit dem Zilber-Tal-Endspiel von 1958 vertraut sei. Das war ich nicht, dafür konnte ich mich plausibel zu der berühmten Saavedra-Stellung äußern. Tatsächlich war ich noch nie in meinem Leben so clever gewesen wie bei diesem Vorstellungsgespräch. Und seit meinen Artikeln für ?Quis? nicht mehr so zufrieden mit mir. Kaum ein Thema, zu dem mir nichts einfiel. Ich konnte meiner Unwissenheit stets einen gewissen Glanz verleihen. Ich sprach mit Tonys Stimme. Wie ein College-Rektor, wie der Vorsitzende eines staatlichen Untersuchungsausschusses, wie ein Landjunker. Beim MI 5 arbeiten? Ich war bereit, den Laden zu führen. Folglich war
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