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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Funktionsstörung.
    Ich fischte ein Taschentuch aus der engen Tasche meiner Jeans und putzte mir die Nase, mit einem traurigen Tutgeräusch. Ich traute mich noch immer nicht zu sprechen.
    Tony sagte gerade: »Du weißt, worauf das alles hinausläuft, oder?«
    Noch immer in seinem sanften Therapeutentonfall. Ich nickte. Ich wusste es ganz genau. Er sagte es mir dennoch. In diesem Moment sah ich einen Lieferwagen mit hohem Tempo heranfahren und virtuos schlitternd auf dem Kies vor dem Kiosk zum Stehen kommen. Popmusik dröhnte aus dem Führerhaus. Ein junger Bursche mit Pferdeschwanz und Muskelshirt, das seine kräftigen braunen Arme zur Geltung brachte, stieg aus und schleuderte zwei große Plastiksäcke voller Hamburgerbrötchen auf den schmutzigen Boden neben dem Kiosk. Dann brauste er mit Getöse davon, und der Wind blies uns die blaue Rauchwolke ins Gesicht. Ja, ich wurde fallen gelassen, wie diese Brötchen. Plötzlich begriff ich, warum wir hier auf diesem Rastplatz waren. Tony rechnete mit einer Szene. Aber er wollte nicht, dass sie in seinem winzigen Wagen stattfand. Wie sollte er ein hysterisches Mädchen vom Beifahrersitz kriegen? Warum also nicht hier, wo er einfach wegfahren und ich dann zusehen konnte, dass ich per Autostopp in die Stadt zurückkam?
    Warum aber sollte ich das hinnehmen? Ich ließ ihn stehen und ging zum Auto. Ich wusste, was ich zu tun hatte. [52] Wir würden beide auf dem Rastplatz bleiben. Eine weitere Stunde in meiner Gesellschaft brachte ihn vielleicht zur Besinnung. Oder auch nicht. Egal. Ich hatte einen Plan. Ich riss die Fahrertür auf und zog den Schlüssel aus der Zündung. Sein ganzes Leben an einem klobigen Ring, ein klapperndes maskulines Sortiment von Chubb- und Banham- und Yale-Schlüsseln für sein Büro, sein Haus, sein Zweithaus, für Briefkasten, Tresor und Zweitauto und all die anderen Bereiche seiner Existenz, die er vor mir versteckt hatte. Ich holte aus, um den Schlüsselbund in hohem Bogen über die Weißdornhecke zu werfen. Falls er da durchkam, sollte er auf Händen und Knien zwischen Kühen und Kuhfladen herumkriechen und die Schlüssel zu seinem Leben suchen, und ich würde ihm dabei zusehen.
    Nach drei Jahren Tennis in Newnham konnte ich einigermaßen weit werfen. Aber es kam nicht dazu. Ich hatte weit ausgeholt und setzte gerade zum Vorschwung an, da schlossen sich Tonys Finger um mein Handgelenk. Sekunden später hatte er mir die Schlüssel abgenommen. Er war nicht grob, und ich wehrte mich auch nicht. Wortlos schob er sich an mir vorbei und stieg ins Auto. Er hatte genug gesagt, im Übrigen hatte ich soeben seine schlimmsten Erwartungen bestätigt. Er schmiss meine Tasche auf den Boden, knallte die Wagentür zu und ließ den Motor an. Jetzt war meine Stimme wieder da, und was sagte ich? Wieder etwas Klägliches. Ich wollte nicht, dass er wegfuhr. Stumpfsinnig rief ich durch das Leinwandverdeck: »Tony, hör auf, so zu tun, als würdest du die Wahrheit nicht kennen.«
    Lachhaft. Natürlich tat er nicht so. Genau das war sein Fehler. Für den Fall, dass noch weitere Worte von mir [53] übertönt werden mussten, ließ er den Motor ein paarmal aufheulen. Dann fuhr er an – erst langsam, aus Sorge vielleicht, dass ich mich auf die Windschutzscheibe oder vor die Räder werfen könnte. Aber ich stand bloß da wie eine tragische Witzfigur und sah ihm nach. Seine Bremslichter leuchteten auf, ehe er sich in den Verkehr einfädelte. Dann war er weg, und es war vorbei.

[54] 3
    Meinen Termin beim MI 5 sagte ich nicht ab. Ich hatte ja nichts anderes mehr in meinem Leben, und jetzt, wo Lucys Angelegenheiten fürs Erste geregelt waren, äußerte sich sogar der Bischof ermutigend zu meinen Karriereaussichten im Gesundheits- und Sozialwesen. Zwei Tage nach der Rastplatzszene ging ich zu meinem Vorstellungsgespräch in der Great Marlborough Street, am Westrand von Soho. Ich wartete auf einem harten Stuhl, den mir eine Sekretärin mit einem Ausdruck wortloser Missbilligung auf den Betonfußboden eines schummrigen Korridors hingestellt hatte. Ich war noch nie in einem so deprimierenden Gebäude gewesen. Etwas weiter im Gang gab es eine Reihe eisengerahmter Fenster aus welligen Glasbausteinen, die ich sonst nur von Kellern kannte. Aber nicht die Glasquader, sondern die Schmutzschichten innen und außen hielten das Licht ab. Auf dem ersten Fenstersims stapelten sich Zeitschriften, die mit einer schwarzen Staubschicht bedeckt waren. Ich fragte mich, ob es sich bei dem Job, falls

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