Honig
Horden, die partout ihre Individualität bekunden wollten. Ja, ich war verbittert. Ich ging die Regent Street entlang, dann nach links, tiefer nach Soho hinein, und wanderte durch verdreckte Straßen voller Müll und weggeworfener Snacks. Ketchupverschmierte Hamburger und Hotdogs und zertrampelte Schachteln auf dem Pflaster und im Rinnstein, aufgeschichtete Müllsäcke an Laternenpfählen. Und überall »Ab 18« in roter Neonschrift. In Schaufenstern wurden, auf niedrigen, mit falschem Samt überzogenen Sockeln, Peitschen, Dildos, erotische Cremes feilgeboten, eine Nietenmaske. Ein fetter Kerl in Lederjacke, vermutlich der Anreißer eines Striplokals, rief mir aus einem Hauseingang ein einziges undeutliches Wort zu. Es hörte sich an wie »Sau!«, vielleicht war es aber auch »Wow!«. Ein anderer Typ pfiff mir nach. Ich eilte weiter und achtete darauf, niemandem in die Augen zu sehen. Ich dachte immer noch an Lucy. Es war unfair, dieses Viertel mit ihr zu assoziieren, aber der neue Geist der Befreiung, der meine Schwester in die Arrestzelle gebracht und geschwängert hatte, ließ auch diese Läden zu (und, hätte ich hinzufügen können, meine eigene Affäre mit einem älteren Mann). Von Lucy hatte ich mehr als einmal gehört, dass die Vergangenheit eine Last und dass die Zeit gekommen sei, alles niederzureißen. Viele Leute dachten so. Liederlicher, leichtfertiger Aufruhr lag in der Luft. Aber dank Tony wusste ich jetzt, wie viel Mühe es gekostet hatte, die westliche Zivilisation aufzubauen, so unvollkommen sie auch sein mochte. Wir hatten unter schlechter Führung zu [61] leiden, unsere Freiheiten waren beschnitten. Aber immerhin, in unserem Teil der Welt hatten die Herrscher keine absolute Macht mehr, und wenn es Barbarei gab, so war sie zumeist Privatsache. Egal, was unter meinen Füßen auf den Straßen von Soho lag, wir hatten uns über den Dreck erhoben. Die Kathedralen, die Parlamente, die Gemälde, die Gerichtshöfe, die Bibliotheken und die Labore – alles viel zu kostbar, um es niederzureißen.
Vielleicht lag es an Cambridge, an der kumulierten Wirkung so vieler alter Gebäude und Parks und der Erkenntnis, wie gnädig die Zeit mit Stein umgeht. Vielleicht war ich auch nur vorsichtig und spröde, oder mir fehlte schlicht der nötige jugendliche Mut. Aber diese wenig glorreiche Revolution war nichts für mich. Ich wollte keinen Sexshop in jeder Stadt, ich wollte kein Leben wie das meiner Schwester, ich wollte kein Feuer an die Geschichte legen. Lass uns verreisen? Ich wollte mit zivilisierten Menschen wie Tony auf Reisen gehen, für den Gesetze und Institutionen etwas Selbstverständliches waren und der ständig darüber nachdachte, wie man sie verbessern könnte. Wenn er doch nur mit mir auf Reisen gehen wollte. Wenn er nur nicht so ein Mistkerl wäre.
Die halbe Stunde, die ich von der Regent Street zur Charing Cross Road brauchte, nahm mir die Entscheidung über mein Schicksal ab. Ich überlegte es mir anders, ich beschloss, den Job doch anzunehmen und meinem Leben Ordnung und Sinn und ein wenig Unabhängigkeit zu geben. Vielleicht war dabei auch ein Hauch Masochismus im Spiel – als verschmähte Geliebte hatte ich nichts Besseres verdient, als eine Tippse zu sein. Und etwas anderes war [62] nicht im Angebot. Ich konnte Cambridge und alles, was mit Tony zusammenhing, hinter mir lassen, ich konnte mich im Menschengewühl Londons verlieren – das hatte etwas verlockend Tragisches. Meinen Eltern würde ich erzählen, ich hätte einen anständigen Beamtenjob im Gesundheits- und Sozialministerium. Wie sich später herausstellte, wäre so viel Heimlichtuerei gar nicht nötig gewesen, aber damals elektrisierte mich der Gedanke, sie hinters Licht zu führen.
Am Nachmittag kehrte ich in mein möbliertes Zimmer zurück, sagte dem Vermieter Bescheid und packte meine Sachen. Am nächsten Tag fuhr ich mit meinen Habseligkeiten nach Hause ins Kathedralenviertel. Meine Mutter freute sich für mich und nahm mich liebevoll in die Arme. Zu meiner Verblüffung steckte der Bischof mir zwanzig Pfund zu. Drei Wochen später begann ich mein neues Leben in London.
Kannte ich Millie Trimingham, die alleinerziehende Mutter, die eines Tages Generaldirektorin werden würde? Diese Frage bekam ich oft zu hören, als man in späteren Jahren frei erzählen durfte, dass man einmal für den MI 5 gearbeitet hatte. Wenn mich die Frage ärgerte, dann deshalb, weil mir dahinter eine andere zu stecken schien: Warum war ich, mit meinen
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