Honig
es keine Überraschung, als mir Mr. Tapp, nachdem ich aus dem Zimmer geschickt und fünf Minuten später wieder hineingerufen wurde, seinen Entschluss mitteilte, mir eine Stelle anzubieten. Was blieb ihm anderes übrig?
Ein paar Sekunden lang konnte ich ihm nicht folgen. Und dann dachte ich, er wolle mich auf den Arm nehmen oder provozieren. Ich sollte eine Stelle als Hilfsassistentin bekommen. Ich wusste bereits, das war im Staatsdienst die allerunterste Stufe in der Rangordnung. Meine Hauptaufgaben wären Archivieren, Katalogisieren und ähnliche Bibliotheksarbeiten. Mit viel Fleiß könnte ich im Laufe der Zeit zur Assistentin aufsteigen. Ich ließ mir nach außen nicht anmerken, was ich plötzlich begriff – dass ich einen furchtbaren Fehler begangen hatte. Oder Tony. Oder dass das die Strafe war, die er sich für mich ausgedacht hatte. Ich wurde nicht als »Beamtin« eingestellt. Nicht als Spionin. [58] Keine Arbeit an der Front. Ich gab mich erfreut, fragte vorsichtig nach, und Joan bestätigte es mir als eine selbstverständliche Tatsache des Lebens: Es gab für Männer und Frauen unterschiedliche Karrierewege, und nur Männer wurden Beamte. Natürlich, natürlich, sagte ich. Das war mir natürlich bekannt. Ich war die clevere junge Frau, die alles wusste. Ich war zu stolz, sie spüren zu lassen, wie schlecht man mich informiert hatte und wie sehr ich mich ärgerte. Ich hörte mich mit Begeisterung akzeptieren. Phantastisch! Danke! Man sagte mir, wann ich anfangen sollte. Kann’s kaum erwarten! Wir standen auf, Mr. Tapp gab mir die Hand und ging. Während Joan mich nach unten brachte, erklärte sie, das Angebot gelte vorbehaltlich der üblichen Sicherheitsüberprüfungen. Falls man mich nahm, würde ich drüben in der Curzon Street arbeiten. Ich müsste mich schriftlich zur Wahrung von Staatsgeheimnissen verpflichten und mich strengstens an die Vorgaben halten. Natürlich, sagte ich immer wieder. Phantastisch. Danke.
Mein Geisteszustand beim Verlassen des Gebäudes: verwirrt und finster. Noch ehe ich mich von Joan verabschiedet hatte, stand für mich fest, dass ich den Job nicht wollte. Ich empfand das als Beleidigung, diese untergeordnete Sekretärinnenstelle zu zwei Dritteln des üblichen Gehalts. Als Kellnerin konnte ich mit Trinkgeld doppelt so viel verdienen. Sollten sie ihren Job doch behalten. Das würde ich ihnen schriftlich mitteilen. So enttäuschend es sein mochte, dies zumindest schien mir klar. Ich fühlte mich erschöpft und leer, ich hatte keine Ahnung, was ich jetzt anfangen oder wohin ich mich wenden sollte. Mein ganzes Geld ging für das Zimmer in Cambridge drauf. Ich hatte keine Wahl, [59] ich musste zu meinen Eltern zurück, wieder Tochter werden, Kind, und mich der Gleichgültigkeit des Bischofs und dem Organisationseifer meiner Mutter stellen. Schlimmer jedoch als diese Aussicht war ein plötzlicher Anfall von Liebeskummer. Nachdem ich eine Stunde lang Tony imitiert und Erinnerungen an unseren Sommer geplündert hatte, stand mir die Affäre wieder lebendig vor Augen. Bei dem Gespräch war mir das ganze Ausmaß meines Verlusts bewusst geworden. Es war, als hätten wir eine lange Unterhaltung gehabt, und er habe sich einfach abgewandt und mich mit dem überwältigenden Gefühl seiner Abwesenheit allein gelassen. Er fehlte mir, ich sehnte mich nach ihm, und ich wusste, ich würde ihn nie zurückbekommen.
Traurig schlich ich die Marlborough Street entlang. Der Job und Tony waren zwei Seiten ein und derselben Sache, nämlich meiner Erziehung des Herzens in diesem Sommer, und das alles hatte sich binnen achtundvierzig Stunden in Luft aufgelöst. Er war wieder bei seiner Frau, wieder in seinem College, und ich hatte nichts. Keine Liebe, keinen Job. Nur das Frösteln der Einsamkeit. Und die Erinnerung daran, wie er sich gegen mich gewandt hatte, machte den Kummer noch schlimmer. So unfair! Ich sah über die Straße und stellte fest, dass ein gemeiner Zufall meine Schritte geradewegs auf die Pseudo-Tudorfassade von Liberty’s zulenkte, wo Tony die Bluse gekauft hatte.
Ich kämpfte gegen den Schmerz an und bog eilig in die Carnaby Street ein, wühlte mich durch die Menschenmassen. Jaulende Gitarrenklänge und der Duft von Patschuli aus einem Kellerladen erinnerten mich an meine Schwester und den ganzen Ärger zu Hause. Auf dem Bürgersteig [60] Kleiderständer, behängt mit Dutzenden von »psychedelischen« Hemden und Sergeant-Pepper-haften Uniformen mit Quasten. Bereit für gleichgesinnte
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