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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Ambitionen, das unverhüllte Streben der Sowjetunion nach der Weltherrschaft. Aber das klingt jetzt schon interessanter, als es tatsächlich war. Theorie und Praxis kamen am häufigsten vor, vor allem Theorie. Das lag daran, dass die Vorträge von einem ehemaligen Offizier der Royal Airforce gehalten wurden, Archibald Jowell, der sich, womöglich in einem Abendkurs, in die Materie vertieft hatte und sein Wissen über Dialektik und ähnliche Begriffe [82] unbedingt an den Mann beziehungsweise die Frau bringen wollte. Wenn man, wie viele von uns, die Augen zumachte, hätte man sich leicht auf einer kommunistischen Parteiversammlung wähnen können, in irgendeinem Kaff wie Stroud etwa, denn es war nicht Jowells Absicht oder Aufgabe, das marxistisch-leninistische Gedankengut zu widerlegen oder auch nur Zweifel daran zu äußern. Er wollte uns die Denkweise des Feindes »von innen heraus« begreiflich machen, wir sollten deren theoretische Basis von Grund auf kennenlernen. Am Ende eines Tages, den wir mit Tippen verbracht hatten und mit dem Versuch, die Kriterien zu begreifen, nach denen eine Tatsache für die furchterregende Miss Ling archivierenswürdig war, wirkte Jowells ernste Suada auf die meisten von uns Neuen wie ein todsicheres Schlafmittel. Alle fürchteten, in dem peinlichen Moment ertappt zu werden, wo die Halsmuskeln sich entspannen und der Kopf nach vorne sinkt, es galt als karriereschädigend. Aber die Angst war nicht stark genug. Schwere Lider hatten am späten Nachmittag ihre eigene Logik, ihr eigenes spezifisches Gewicht.
    Warum also saß ich die ganze Stunde lang mit übereinandergeschlagenen Beinen kerzengerade und hellwach auf der Stuhlkante und schrieb fleißig in das Notizbuch auf meinem nackten Knie? Was bloß stimmte nicht mit mir? Ich war Mathematikerin und ehemalige Schachspielerin, und ich war ein Mädchen, das Trost brauchte. Der dialektische Materialismus war ein wunderbar in sich geschlossenes System, ähnlich wie die Verfahren der Sicherheitsüberprüfung, nur noch rigoroser und vertrackter. Eher wie eine Gleichung von Leibniz oder Hilbert. Menschliche Bedürfnisse, [83] Gesellschaften, die Geschichte und eine bestimmte Analysemethode waren darin so eindrucksvoll, so unmenschlich perfekt ineinander verschlungen wie in einer Fuge von Bach. Wer konnte da einschlafen? Die Antwort lautete: Alle außer mir und Greatorex. Er saß links von mir, einen Rösselsprung entfernt, die offenliegende Seite seines Notizbuchs überzogen mit seiner schwungvollen Handschrift.
    Einmal ließ ich mich vom Vortrag ablenken und betrachtete ihn. Es stimmte, seine abstehenden Ohren wuchsen aus seltsamen, knochigen Höckern an seinem Schädel hervor und waren knallrosa. Ungünstig unterstrichen wurde das Ganze noch durch seine altmodische Frisur, denn er trug das Haar wie ein Soldat hinten und an den Seiten kurz, was eine tiefe Furche in seinem Nacken sichtbar machte. Er erinnerte mich an Jeremy und, weniger angenehm, an einige Kommilitonen in Cambridge, die mich in den Mathematikseminaren gedemütigt hatten. Aber das durfte einem nicht den Blick auf den Rest verstellen, denn sein Körperbau war schlank und kräftig. In Gedanken verpasste ich ihm eine andere Frisur, ließ seine Haare wachsen, bis sie den Abstand zwischen Ohren und Kopf ganz ausfüllten und ihm bis über den Kragen fielen, was inzwischen selbst im Leconfield House statthaft war. Das senffarbene karierte Tweedjackett müsste weg. Sogar aus meinem schiefen Blickwinkel konnte ich erkennen, dass sein Krawattenknoten zu klein war. Er müsste anfangen, sich Max zu nennen, und seine Schraubenzieher in der Schublade lassen. Er schrieb mit brauner Tinte. Auch das würde sich ändern müssen.
    »Und damit kehre ich zu meinem Ausgangspunkt zurück«, schloss Ex-Airforce-Hauptmann Jowell. »Letztlich [84] beruht die Stärke und Langlebigkeit des Marxismus wie jedes anderen theoretischen Systems auf seiner Macht, intelligente Männer und Frauen zu verführen. Und die hat dieses System wahrhaftig. Ich danke Ihnen.«
    Unsere schläfrige Schar rappelte sich auf und blieb respektvoll stehen, während der Dozent den Raum verließ. Als er draußen war, drehte Max sich um und sah mir in die Augen. Die senkrechte Furche in seinem Nacken schien über telepathische Fähigkeiten zu verfügen. Er wusste, dass ich ihn vollständig umgekrempelt hatte.
    Ich war es, die den Blick senkte.
    Er zeigte auf den Stift in meiner Hand. »Viel Notizen gemacht.«
    Ich sagte: »Es war

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