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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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es. Aber etwa einen Monat später saßen wir am Berkeley Square und versuchten den Text des berühmten Songs über die Nachtigall, die dort sang, zu rekonstruieren. Max hatte mir erzählt, er habe sich das Klavierspielen selbst beigebracht und spiele gern Musical-Lieder und schmalzige Schlager aus den Vierzigern und Fünfzigern, Musik, die genauso aus der Mode war wie seine Frisur. Zufällig kannte ich diesen Song von einer Schulaufführung her. Teils sangen, teils sprachen wir die hübschen Zeilen: I may be right, I may be wrong / But I’m perfectly willing to swear / That when you turned and smiled at me / A nightingale …, als Max unvermittelt fragte: »War es Kumlinge?«
    »Ja, genau. Wie kommst du jetzt darauf?«
    »Na ja, ich hab gehört, es soll dort sehr schön sein.«
    »Ich denke, ihm hat die Einsamkeit gefallen.«
    »Muss wohl.«
    Im Verlauf des Frühjahrs wuchs meine Zuneigung zu Max und nahm allmählich die Züge einer leichten Obsession an. Wenn ich nicht mit ihm zusammen war, wenn ich abends mit Shirley um die Häuser zog, wurde ich unruhig, als fehlte mir etwas. Ich freute mich aufs Büro, wo ich ihn, [88] über die Papiere auf seinem Schreibtisch gebeugt, immer im Blick hatte. Aber auch das reichte mir nicht, und bald versuchte ich unsere nächste Begegnung herbeizuführen. Es war nicht zu leugnen, ich hatte eine Schwäche für eine bestimmte Sorte schlechtgekleideter, altmodischer Männer (Tony zählte nicht), grobknochig, hager und auf sperrige Weise intelligent. Wie untadelig mir Max erschien, wie unnahbar. Verglichen mit seiner selbstverständlichen Beherrschtheit kam ich mir unbeholfen und vorlaut vor. Ich machte mir Sorgen, dass er mich vielleicht gar nicht mochte und das nur aus Höflichkeit nicht sagte. Ich malte mir aus, er habe alle möglichen privaten Regeln, heimliche Vorstellungen von korrektem Verhalten, gegen die ich fortwährend verstieß. Dieses Unbehagen fachte mein Interesse an ihm bloß noch weiter an. Das Thema, das seine Lebensgeister weckte, bei dem er Feuer fing, war die Sowjetunion. Er war ein Kalter Krieger höherer Ordnung. Andere mochten sich in Zorn und Abscheu ergehen, Max hingegen war überzeugt davon, hier seien gute Absichten und die menschliche Natur eine unselige Allianz eingegangen, die zu einer Tragödie finsterer Verstrickungen geführt habe. Hunderte Millionen Menschen im russischen Imperium seien unwiederbringlich um Glück und Zufriedenheit gebracht worden. Niemand, nicht einmal die jetzige Führung, habe gewollt, was sie jetzt hätten. Der Trick bestehe nun darin, ihnen nach und nach einen Ausweg anzubieten, bei dem sie das Gesicht wahren konnten; man müsse Geduld haben, gut zureden, Anreize schaffen, zugleich aber unnachgiebig bleiben gegenüber dem, was er als eine wahrhaft schreckliche Idee bezeichnete.
    [89] Er war sicher nicht der Typ Mann, den man über sein Liebesleben aushorchen konnte. Ich fragte mich, ob er in Egham mit einem Mann zusammenlebte. Ich überlegte mir sogar, dort hinzufahren und nachzusehen. So schlimm stand es schon um mich. Was ich wollte, schien unerreichbar, und das reizte mich nur umso mehr. Ich fragte mich aber auch, ob er wohl wie Jeremy in der Lage wäre, einer Frau Befriedigung zu verschaffen, ohne selbst viel davon zu haben. Nicht gerade ideal, nichts Gegenseitiges, aber besser als nichts, jedenfalls für mich. Besser als sinnlose Sehnsucht.
    Eines Abends gingen wir nach der Arbeit im Park spazieren. Thema war die Provisorische IRA – ich vermutete, er besaß da Insiderwissen. Er erzählte von einem Artikel, den er gelesen hatte, als ich, einer jähen Regung folgend, seinen Arm nahm und ihn fragte, ob er mich küssen wolle.
    »Nicht sonderlich.«
    »Aber ich möchte es.«
    Wir blieben mitten auf dem Weg stehen, zwischen zwei Bäumen, so dass andere Spaziergänger sich an uns vorbeizwängen mussten. Es war ein inniger, leidenschaftlicher Kuss, oder zumindest eine gute Nachahmung davon. Vielleicht kompensiert er damit einen Mangel an Begehren, dachte ich. Als er sich von mir löste, versuchte ich ihn wieder an mich zu ziehen, aber er entwand sich.
    »Das reicht fürs Erste«, sagte er und tippte mir mit dem Zeigefinger auf die Nase wie ein gestrenger Vater, der ein quengelndes Kind in die Schranken weist. Ich spielte mit, zog einen Flunsch und legte artig meine Hand in seine, dann gingen wir weiter. Ich wusste, der Kuss würde meine [90] Lage noch erschweren, aber wenigstens hielten wir zum ersten Mal Händchen. Ein paar

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