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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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hinauf. Plötzlich fehlte mir dieses Trio vernünftiger Mädchen aus dem Norden und das Licht, das unter ihren Türen durchschimmerte, und mich beschlich ein unbehagliches Gefühl. Aber auch ich war vernünftig. Vor Übernatürlichem hatte ich keine Angst, und über ehrfürchtiges Gerede von intuitivem Wissen und sechstem Sinn [102] konnte ich nur lachen. Mein Herzklopfen, redete ich mir ein, kam vom Treppensteigen. Doch als ich zu meiner Tür gelangte, blieb ich, ehe ich die Deckenlampe einschaltete, kurz auf der Schwelle stehen – ganz allein in einem großen alten Haus zu sein machte mich nun doch ein ganz klein wenig nervös. Einen Monat zuvor hatte es auf dem Camden Square eine Messerstecherei gegeben, eine grundlose Attacke eines dreißigjährigen Schizophrenen. Ich war mir sicher, dass niemand ins Haus eingedrungen war, aber solche Schreckensnachrichten wirken tief im Inneren fort, ohne dass man sich dessen richtig bewusst ist. Sie schärfen die Sinne. Ich stand da und lauschte, vernahm aber außer dem Tinnitusrauschen der Stille in meinem Ohr nur das Summen der Stadt und, näher, das Knistern und Knacken, mit dem die Außenwände des Gebäudes in der Nachtluft abkühlten und sich zusammenzogen.
    Ich legte die Hand auf den Bakelitschalter, machte das Licht an und sah sofort: Das Zimmer war unberührt. Dachte ich jedenfalls. Ich trat ein und stellte meine Tasche ab. Das Buch, in dem ich am Abend zuvor gelesen hatte – Eating People is Wrong von Malcolm Bradbury –, befand sich an seinem Platz neben dem Stuhl auf dem Boden. Aber das Lesezeichen lag auf dem Sessel. Dabei war niemand im Haus gewesen, seit ich es am Morgen verlassen hatte.
    Natürlich vermutete ich zunächst, ich sei am Abend zuvor von meinem Ritual abgewichen. Kann ja passieren, wenn man müde ist. Vielleicht war ich aufgestanden und hatte das Lesezeichen auf dem Weg zum Waschbecken fallen lassen. Ich erinnerte mich jedoch deutlich. Der Roman war so kurz, dass ich ihn in zwei Abenden hätte durchlesen [103] können. Aber meine Lider waren schwer. Ich war bei weitem nicht bis zur Hälfte gekommen, als ich den Lederstreifen geküsst und zwischen die Seiten achtundneunzig und neunundneunzig gelegt hatte. Ich erinnerte mich sogar noch an den letzten gelesenen Satz, weil ich, bevor ich das Buch zuklappte, noch einmal einen Blick darauf warf. Es war eine Dialogzeile: »Intellektuelle sind keineswegs immer liberal eingestellt.«
    Ich suchte das Zimmer nach anderen verdächtigen Anzeichen ab. Da ich keine Regale besaß, stapelten sich meine Bücher an der Wand, aufgeteilt in gelesene und ungelesene. Zuoberst auf dem Ungelesen-Stapel, als Nächstes an der Reihe, lag A. S. Byatts The Game. Alles in Ordnung. Ich durchstöberte die Kommode und meinen Waschbeutel, ich sah auf und unter meinem Bett nach – nichts war bewegt oder gestohlen worden. Dann ging ich zum Stuhl zurück und starrte eine Weile auf den Boden, als könne ich damit das Rätsel lösen. Eigentlich hätte ich nach unten gehen und dort nach Spuren eines Einbruchs suchen müssen, aber ich wollte nicht. Der Titel von Bradburys Roman sprang mich an, er erschien mir jetzt wie ein wirkungsloser Protest gegen allgemein verbreitete Moralvorstellungen. Ich hob das Buch auf und blätterte darin herum und fand die Stelle, wo ich mit Lesen aufgehört hatte. Draußen auf dem Treppenabsatz beugte ich mich übers Geländer. Ich hörte nichts Ungewöhnliches, wagte mich aber immer noch nicht hinunter.
    Meine Tür hatte weder Schloss noch Riegel. Ich schob die Kommode davor, ließ das Licht an und legte mich ins Bett. Fast die ganze Nacht lag ich, die Decke zum Kinn [104] hochgezogen, auf dem Rücken und lauschte, während meine Gedanken sich im Kreis drehten. Ich wartete auf die Morgendämmerung wie auf eine tröstende Mutter, die alles wiedergutmachen würde. Und so war es dann auch. Als der Morgen graute, war ich längst überzeugt, dass Müdigkeit meine Erinnerung getrübt, dass ich die Absicht mit der Tat verwechselt und das Buch ohne das Lesezeichen weggelegt hatte. Ich hatte mir mit meinem eigenen Schatten Angst eingejagt. Das Tageslicht kam mir in diesem Moment vor wie die physische Manifestation des gesunden Menschenverstands. Ich brauchte ein wenig Schlaf, da ich an diesem Tag einen wichtigen Vortrag besuchen musste. Um das Lesezeichen hatte sich nun so dichter Nebel zusammengezogen, dass ich endlich einschlafen konnte – bis zweieinhalb Stunden später der Wecker klingelte.
    An diesem Tag fiel

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