Honig
flüchtige Berührung von Lippen und Zungen. Ich war versucht, ja zu sagen, weil er das von mir hören wollte.
»Nein. Warum fragst du?«
[93] »Ich bin nur neugierig. Hat er dich mit Maudling bekannt gemacht?«
»Nein. Warum?«
»Mich hätte dein Eindruck interessiert, das ist alles.«
Wieder küssten wir uns. Wir lagen im Gras. Ich ließ meine Hand von seiner Hüfte hinuntergleiten, zwischen seine Beine. Ich wollte wissen, ob ich ihn wirklich erregte. Oder ob er bloß ein brillanter Heuchler war. Aber als meine Fingerspitzen nur noch Zentimeter vom harten Beweis entfernt waren, drehte er sich weg, löste sich von mir, stand auf und wischte ein paar trockene Grashalme von seiner Hose. Die Geste wirkte betulich. Er reichte mir die Hand, um mich hochzuziehen.
»Ich muss zum Bahnhof. Heute Abend koche ich für einen Freund.«
»Ach, wirklich.«
Wir gingen los. Die Feindseligkeit in meiner Stimme war ihm nicht entgangen; zögernd, oder reumütig, berührte er mich am Arm. Er sagte: »Hast du auf Kumlinge mal sein Grab besucht?«
»Nein.«
»Hast du den Nachruf gelesen?«
Sein »Freund« war schuld, dass dieser Abend nirgendwo hinführen würde.
»Ja.«
» Times oder Telegraph ?«
»Max, ist das ein Verhör?«
»Sei nicht albern. Ich bin nur schrecklich neugierig. Bitte verzeih mir.«
»Dann lass mich in Ruhe.«
[94] Schweigend gingen wir weiter. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Einzelkind, Jungeninternat – er hatte keine Ahnung, wie man mit einer Frau redete, wenn etwas im Argen lag. Und ich sagte nichts. Ich war wütend, wollte ihn aber nicht verscheuchen. Als wir vor dem Park auf dem Bürgersteig stehen blieben, hatte ich mich etwas beruhigt.
»Serena, ist dir klar, dass ich dich immer mehr ins Herz schließe?«
Das freute mich, das freute mich sehr, doch ich ließ es mir nicht anmerken. Ich wartete ab, ob er noch mehr zu sagen hätte. Er schien kurz davor, wechselte dann aber das Thema.
»Übrigens. Sei nicht ungeduldig, was die Arbeit betrifft. Ich weiß zufällig von einem sehr interessanten Projekt, das demnächst ansteht. Operation Honig. Genau das Richtige für dich. Ich habe ein gutes Wort für dich eingelegt.«
Er wartete nicht auf eine Antwort. Er spitzte die Lippen, zuckte die Schultern und ging davon, die Park Lane entlang in Richtung Marble Arch, während ich ihm nachsah und mich fragte, ob er die Wahrheit gesagt hatte.
[95] 5
Mein Zimmer in der St. Augustine’s Road ging nach Norden, zur Straße hin, durchs Fenster sah ich ins Gezweig einer Rosskastanie. Als im Frühjahr die Blätter sprossen, wurde es mit jedem Tag dunkler im Zimmer. Mein Bett nahm etwa die Hälfte des Raumes ein, ein wackliges Ding mit Walnussfurnier am Kopfende und einer weichen Matratze, in der ich fast versank. Zu dem Bett gehörte eine muffige, plüschige gelbe Tagesdecke. Ich brachte sie ein paarmal in den Waschsalon, aber der dumpf-intime Geruch – nach nassem Hund vielleicht, oder nach einem sehr unglücklichen Menschen – ließ sich nie ganz rauswaschen. Das einzige andere Möbelstück war eine Kommode mit einem facettierten Kippspiegel. Das Ding stand vor einem winzigen Kamin, der an warmen Tagen einen säuerlichen Rußgestank verbreitete. Als der Baum voll erblüht war, hatte ich bei bedecktem Himmel nicht mehr genug Licht zum Lesen, also kaufte ich mir in einem Trödelladen an der Camden Road für dreißig Pence eine Art-déco-Lampe. Einen Tag später ging ich zurück und bezahlte 1,20 Pfund für einen klobigen Sessel, um nicht in dem viel zu weichen Bett lesen zu müssen. Der Ladenbesitzer trug den Sessel auf seinem Rücken zu mir nach Hause, eine halbe Meile weit und dann noch zwei Treppen hoch, dafür [96] hatten wir 13 Pence vereinbart, den Preis für ein Bier – ich gab ihm 15.
Die meisten Häuser in der Straße waren in mehrere Parteien unterteilt und unrenoviert, obwohl ich mich nicht erinnern kann, dass irgendjemand damals dieses Wort benutzt oder in solchen Kategorien gedacht hätte. Geheizt wurde mit Heizlüftern, Flure und Küchen waren mit uraltem braunem Linoleum ausgelegt, die anderen Räume mit geblümtem Teppichboden, der unter den Füßen klebte. Die kleinen Ausbesserungen stammten wahrscheinlich aus den zwanziger oder dreißiger Jahren – die Stromleitungen verliefen durch staubige, an die Wand geschraubte dünne Rohre, Telefon gab es nur im zugigen Korridor, der Boiler mit dem hungrigen Stromzähler speiste brühend heißes Wasser in das winzige, kalte Badezimmer ohne
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