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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Mensch, eine Automarke. Das gab mir, so dachte ich, einen Maßstab für die Qualität eines Textes, ich konnte beurteilen, wie genau die Schilderung war, bis zu welchem Grad sie mit meinen eigenen Eindrücken übereinstimmte oder diese gar übertraf. Zu meinem Glück ging es im Großteil der englischen Literatur jener Zeit formal eher anspruchslos darum, die Gesellschaft widerzuspiegeln. Kalt ließen mich jene Autoren, die in Süd- und Nordamerika grassierten und sich selbst unter das Personal ihrer Romane mischten, fest entschlossen, die armen Leser daran zu erinnern, dass alle Figuren und sogar sie selbst reine Erfindung waren und dass es einen Unterschied zwischen Fiktion und dem Leben gab. Oder im Gegenteil klarzustellen, dass das Leben ohnehin eine Fiktion war. Nur Schriftsteller, dachte ich, gerieten je in Gefahr, das eine mit dem anderen zu verwechseln. Ich war eine geborene Empirikerin. Schriftsteller wurden meiner Ansicht nach dafür bezahlt, anderen etwas vorzuspielen, und an geeigneter Stelle sollten sie ruhig von der realen Welt, die uns allen gemeinsam war, Gebrauch machen, um ihren ausgedachten Geschichten Plausibilität zu verleihen. Also bitte kein listiges Schachern um die Grenzen ihrer Kunst, keine Illoyalität dem Leser gegenüber, indem sie unter irgendwelchen Masken zwischen realer und imaginierter Welt hin und her wechselten. In den Büchern, die mir gefielen, war kein Platz für Doppelagenten. Zu jener Zeit prüfte und verwarf ich Autoren, die mir intellektuelle [100] Freunde in Cambridge dringend ans Herz gelegt hatten – Borges und Barth, Pynchon und Cortázar und Gaddis. Kein Engländer darunter, fiel mir auf, und keine Frau, egal welcher Herkunft. Da war ich skeptisch wie manche Leute aus der Generation meiner Eltern, die nicht nur Geruch und Geschmack von Knoblauch verabscheuten, sondern auch allen misstrauten, die ihn verzehrten.
    In unserem Sommer der Liebe hatte mich Tony Canning öfters getadelt, weil ich Bücher aufgeschlagen und mit der Schriftseite nach unten herumliegen ließ. Das beschädige den Buchrücken, und dann gehe ein Buch immer an einer bestimmten Stelle von allein auf, was einem willkürlichen und sachfremden Eingriff sowohl in die Absichten des Autors als auch in das Ermessen eines anderen Lesers gleichkomme. Daher schenkte er mir ein Lesezeichen. Kein großartiges Geschenk. Offenbar hatte es in irgendeiner Schublade herumgelegen. Ein grüner Lederstreifen mit krenelierten Enden und dem in Gold eingeprägten Namen einer walisischen Burg oder Festungsanlage. Typischer Souvenir-Kitsch aus der Zeit, als er und seine Frau noch glücklich miteinander waren, glücklich genug jedenfalls, um gemeinsame Ausflüge zu unternehmen. Sie ärgerte mich nur ein kleines bisschen, diese Lederzunge, die so heimtückisch von einem anderen Leben sprach, anderswo und ohne mich. Soweit ich weiß, habe ich das Lesezeichen damals nie benutzt. Stattdessen prägte ich mir die Seitenzahl ein und gewöhnte mir auf diese Weise ab, Buchrücken kaputtzumachen. Monate nach der Affäre fand ich es, gewellt und klebrig, zusammen mit einem Bonbonpapier am Grund einer Tasche.
    [101] Ich habe gesagt, nach seinem Tod sei mir kein Unterpfand seiner Liebe geblieben. Aber ich hatte das Buchzeichen. Ich säuberte es, strich es glatt, hielt es in Ehren und in Gebrauch. Es heißt, Schriftsteller seien abergläubisch und hätten ihre kleinen Rituale. Das gilt auch für Leser. Ich zum Beispiel hielt mein Lesezeichen zwischen den Fingern und streichelte es beim Lesen mit dem Daumen. Bevor mir spätabends die Augen zufielen, legte ich das Lesezeichen an die Lippen und erst dann zwischen die Seiten, klappte das Buch zu und deponierte es neben dem Stuhl auf dem Boden, griffbereit für das nächste Mal. Tony wäre zufrieden gewesen.
    An einem Abend Anfang Mai, über eine Woche nach unseren ersten Küssen, blieb ich länger als gewöhnlich mit Max im Berkeley-Square-Park. Er war in besonders mitteilsamer Stimmung und erzählte von einer Uhr aus dem achtzehnten Jahrhundert, über die er eines Tages vielleicht etwas schreiben wollte. Als ich in die St. Augustine’s Road zurückkam, war das Haus dunkel. Es fiel mir wieder ein, heute war der zweite einer Reihe obskurer gesetzlicher Feiertage. Pauline, Bridget und Tricia waren trotz ihrer gegenteiligen Schwüre für ein verlängertes Wochenende nach Stoke gefahren. Ich machte Licht im Flur und im Durchgang zur Küche, verriegelte die Haustür und ging in mein Zimmer

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