Honig
Brigadier weiter, würden ihnen die Augen aufgehen. Als Vergeltung für die tragischen Todesfälle von Derry massakrierte die Offizielle IRA in Aldershot fünf Putzfrauen, einen Gärtner und einen katholischen Priester, die Provisorische IRA ihrerseits ermordete im Belfaster Restaurant Abercorn Mütter und Kinder, darunter auch Katholiken. Und während des landesweiten Streiks bekamen unsere Jungs es mit schlimmen protestantischen Pöbelhaufen zu tun, aufgehetzt von der Ulster Vanguard, einem Verein der allerübelsten Sorte. Dann der Waffenstillstand und, als der scheiterte, Greueltaten gegen die Bevölkerung von Ulster durch psychopathische Waffen- und Bombenfanatiker beider Konfessionen, Tausende bewaffnete Raubüberfälle und wahllose Anschläge mit Nagelbomben, Schüsse ins Knie und Prügel als Strafaktionen, fünftausend Schwerverletzte, etliche Hundert Tote, ermordet von loyalistischen und republikanischen Milizen, einige aber auch von britischen Soldaten – ohne Absicht, natürlich. So weit die Bilanz für 1972.
Der Brigadier seufzte theatralisch. Er war ziemlich groß, seine Augen zu klein für seinen knochigen Riesenschädel. Weder ein halbes Leben militärischer Drill noch sein maßgeschneiderter dunkler Anzug samt Einstecktuch vermochten diesen struppigen Einmeterneunzig-Mann mit [108] den schlurfenden Bewegungen zu bändigen. Man traute ihm zu, einem Dutzend Psychopathen mit bloßen Händen den Garaus zu machen. Jetzt, berichtete er uns, hatte sich die Provisorische IRA auf der britischen Hauptinsel in klassischer Terroristenmanier in Zellen organisiert. Nach achtzehn Monaten tödlicher Anschläge würde es nun laut Gerüchten noch schlimmer kommen. Man gab längst nicht einmal mehr vor, ausschließlich militärische Anlagen anzugreifen. Es ging um Terror. Wie in Nordirland galten nun Kinder, Ladenbesucher oder normale Arbeiter als geeignete Zielscheiben. Die Wirkung von Bomben in Kaufhäusern und Pubs wäre umso größer, sollten Niedergang der Industrie, hohe Arbeitslosigkeit, Inflation und Energiekrise tatsächlich zu dem allgemein befürchteten gesellschaftlichen Zusammenbruch führen.
Zu unserer kollektiven Schande sei es uns nicht gelungen, die Terrorzellen zu enttarnen und ihre Nachschublinien zu unterbrechen. Doch – und damit kam unser Gastredner zur Sache – der wesentliche Grund für unser Versagen sei die mangelnde Koordination der Geheimdienste. Zu viele Behörden, zu viele Bürokraten, die ihr Terrain verteidigten, zu viele Abgrenzungen, unzureichende zentrale Kontrolle.
Nur Stühleknarren und Geflüster waren zu hören, in den Reihen vor mir beobachtete ich verhaltene Unruhe, Köpfe, die sich geringfügig senkten oder drehten, Schultern, die sich kaum merklich einem Sitznachbarn zuneigten. Der Brigadier hatte etwas angesprochen, was man im Leconfield House schon lange beklagte. Selbst ich hatte davon gehört, von Max. Über die Grenzen der einander misstrauisch beäugenden Reiche hinweg flossen keine [109] Informationen. Aber würde unser Gast den Versammelten sagen, was sie hören wollten, war er auf unserer Seite? Ja, so war es. Der MI 6, sagte er, operiere, wo er nichts zu suchen habe: in Belfast und Londonderry, im Vereinigten Königreich. Als Auslandsnachrichtendienst habe der MI 6 einen bloß historischen Anspruch darauf, der aus der Zeit vor der Teilung stamme und heute gegenstandslos sei. Es gehe um ein innerstaatliches Problem. Und dafür sei der MI 5 zuständig. Der Militärische Geheimdienst sei überbesetzt und durch verfahrensrechtliche Vorgaben gelähmt. Die Royal Ulster Constabulary, die sich für den Platzhirsch halte, sei schwerfällig, unterfinanziert und, vor allem, selbst ein Teil des Problems – eine protestantische Domäne. Wer wenn nicht sie hätte 1971 die Internierungsmaßnahmen so in den Sand setzen können?
Der MI5 habe recht daran getan, sich von dubiosen Verhörtechniken zu distanzieren, die man nur als Folter bezeichnen könne. Jetzt gebe der Inlandsgeheimdienst sein Bestes in einem überfüllten Feld. Doch selbst wenn für jede Behörde nur Genies und Effizienzbestien arbeiten würden, könnten vier Behörden nebeneinander nie den monolithischen Block der Provisorischen IRA zerschlagen, eine der schlimmsten Terrorbanden, die die Welt je gesehen habe. Nordirland sei für die Sicherheit des Landes von entscheidender Bedeutung. Der MI 5 müsse die Sache in die Hand nehmen und in höchsten Regierungskreisen Gehör finden, er müsse die anderen Beteiligten
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