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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Dusche, das sich vier Frauen teilten. Diese Häuser hatten ihr düsteres viktorianisches Erbe noch nicht abgestreift, aber nie hörte ich jemanden darüber klagen. Wie ich es in Erinnerung habe, begann es in den Siebzigern den normalen Leuten, die in diesen alten Kästen wohnten, gerade erst zu dämmern, dass sie außerhalb der Stadt vielleicht angenehmer leben könnten, wenn hier die Preise weiter so anstiegen. Die Häuser in den Seitenstraßen von Camden Town warteten noch auf eine neue, dynamischere Klasse von Bewohnern, die sich an die Arbeit machen, Heizungen einbauen und aus vollkommen unerfindlichen Gründen sämtliche Beläge von den Dielenbrettern reißen und Fußbodenleisten und Türen von dem letzten Farbrest befreien würden.
    Mit meinen Mitbewohnerinnen hatte ich Glück – Pauline, Bridget, Tricia, drei Mädchen aus der Arbeiterklasse, [97] aus Stoke-on-Trent, die sich seit der Kindheit kannten, nach der gemeinsamen Schulzeit zusammen ihr Jurastudium begonnen hatten und nun kurz vor dem Abschluss standen. Sie waren langweilig, ehrgeizig, extrem ordentlich. Der Haushalt lief reibungslos, die Küche war immer sauber, der winzige Kühlschrank voll. Falls es Männer in ihrem Leben gab, sah ich sie jedenfalls nie. Kein Alkohol, keine Drogen, keine laute Musik. Damals hätte man sich in Wohngemeinschaften eher auf Leute wie meine Schwester gefasst machen müssen. Tricia lernte gerade fürs Anwaltsexamen, Pauline spezialisierte sich auf Gesellschaftsrecht, Bridget auf Immobilienrecht. Jede erklärte mir auf ihre eigene herausfordernde Weise, sie werde niemals nach Stoke zurückgehen, was sie anscheinend nicht nur geographisch meinten. Aber ich fragte nicht näher nach. Ich musste mich in meinen neuen Job einarbeiten und brachte für ihren Klassenkampf, ihren sozialen Aufstieg wenig Interesse auf. Sie hielten mich für eine langweilige Beamtin, ich hielt sie für langweilige angehende Anwältinnen. Perfekt. Da wir unterschiedliche Tagesabläufe hatten, aßen wir nur selten zusammen. Im Wohnzimmer, dem einzigen gemütlichen Gemeinschaftsraum, hielt sich kaum je jemand auf. Sogar der Fernseher blieb meist stumm. Abends lernten die drei in ihren Zimmern, ich las in meinem oder ging mit Shirley aus.
    Ich behielt meine alten Lesegewohnheiten bei, drei bis vier Bücher pro Woche. In diesem Jahr hauptsächlich modernes Zeug, Taschenbücher, die ich in Trödelläden oder Buchantiquariaten in der High Street kaufte, manchmal auch, wenn ich mir das leisten zu können glaubte, bei Compendium in der Nähe von Camden Lock. Wie gewohnt [98] schlang ich alles gierig in mich hinein, zuweilen jedoch mit Anflügen von Langeweile, die ich – ohne Erfolg – zu unterdrücken suchte. Von außen hätte man meinen können, ich blätterte in einem Nachschlagewerk, so schnell schlug ich die Seiten um. Und tatsächlich habe ich auf meine gedankenlose Art wohl nach etwas gesucht, nach einer Version meiner selbst, einer Heldin, in die ich hineinschlüpfen könnte wie in ein Paar alter Lieblingsschuhe. Oder eine Wildseidenbluse. Denn ich wollte mein bestes Ich sehen, nicht das Mädchen, das sich abends in ihrem Flohmarktsessel über ein zerlesenes Taschenbuch beugte, sondern die flotte junge Frau, die die Beifahrertür eines Sportwagens öffnet, sich von ihrem Liebhaber einen Kuss abholt und dann mit ihm zu einem Liebesnest auf dem Lande braust. Ich gestand es mir nicht ein, aber eigentlich wäre leichtere Lektüre für mich das Richtige gewesen, irgendwelche billigen Liebesschmöker. Unterdessen hatte ich durch Cambridge, oder durch Tony, einen gewissen Geschmack, wenn nicht Snobismus entwickelt. Ich stellte Jacqueline Susann nicht mehr über Jane Austen. Manchmal schimmerte mein Alter Ego flüchtig zwischen den Zeilen auf, es schwebte mir wie ein freundliches Gespenst aus den Büchern von Doris Lessing, Margaret Drabble oder Iris Murdoch entgegen. Und verschwand gleich wieder – ihre Frauenfiguren waren zu gebildet oder zu klug oder nicht ganz einsam genug in der Welt, um ich zu sein. Vermutlich wäre ich erst zufrieden gewesen, wenn ich einen Roman über ein Mädchen in die Hand bekommen hätte, das in einem möblierten Zimmer in Camden wohnte, einen niedrigen Posten beim MI 5 hatte und keinen Mann in ihrem Leben.
    [99] Ich lechzte nach naivem Realismus. Besonders aufmerksam reckte ich meinen Leserhals, wenn eine Londoner Straße erwähnt wurde, die ich kannte, oder ein Kleid mit einem bestimmten Schnitt, ein real existierender

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