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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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ich beim MI 5 zum ersten Mal negativ auf, und das hatte ich Shirley zu verdanken. Ich war schon eine von denen, die gelegentlich den Mund aufmachten, aber noch stärker war mein Wunsch, beruflich voranzukommen und den Beifall meiner Vorgesetzten zu finden. Shirley hatte etwas Kämpferisches, ja Rücksichtsloses an sich, das meinem Wesen ganz fremd war. Aber schließlich waren wir ein Duo, Laurel und Hardy, und so konnte es vielleicht nicht ausbleiben, dass ich in den Dunstkreis ihrer Aufmüpfigkeit hineingeriet und in die Rolle der Kumpanin, die es ausbaden musste.
    Es geschah am Nachmittag, als wir uns im Leconfield House den Vortrag »Anarchie der Wirtschaft, Aufstand der Bürger« anhörten. Die Veranstaltung war gut besucht. [105] Wenn wir prominente Gäste hatten, arrangierte sich die Sitzordnung stets stillschweigend und ganz von selbst nach Status. Zuvorderst saßen verschiedene Granden aus der fünften Etage. Drei Reihen dahinter Harry Tapp und Millie Trimingham. Und nochmals zwei Reihen weiter hinten Max, er redete mit einem Mann, den ich noch nie gesehen hatte. Hinter ihnen dann dichtgedrängt die Frauen unterhalb der Ebene der stellvertretenden Führungsbeamten. Und endlich, ganz allein in der hintersten Reihe, Shirley und ich, die bösen Mädchen. Ich zumindest hielt ein Notizbuch bereit.
    Der Generaldirektor kam nach vorn und stellte den Gastredner vor, einen Brigadier mit langjähriger Erfahrung auf dem Gebiet der Aufstandsbekämpfung, der jetzt als Berater für den Geheimdienst fungierte. Aus verschiedenen Teilen des Raums kam Applaus für den hochrangigen Soldaten. Er sprach auf jene leicht abgehackte Art, die wir heute mit alten britischen Filmen und Radiokommentaren aus den Vierzigern assoziieren. Einige unserer älteren Vorgesetzten hatten ihn auch noch, jenen steinernen Ernst derer, die in einem langen und totalen Krieg gekämpft hatten.
    Aber der Brigadier drückte sich gern auch einmal blumiger aus. Ihm sei bewusst, sagte er, dass eine ganze Reihe ehemaliger Soldaten im Saal sei, und er hoffe auf ihre Nachsicht, wenn er einige Tatsachen festhalte, die ihnen wohlbekannt sein dürften – anderen hingegen vermutlich nicht. Die erste dieser Tatsachen sei: Unsere Soldaten befänden sich im Krieg, aber kein Politiker habe den Mut, das beim Namen zu nennen. Wir schickten Männer los, damit sie verfeindete, durch einen uralten, abstrusen Religionsstreit [106] entzweite Lager voneinander fernhielten, und sie wurden von beiden Seiten angegriffen. Die Einsatzregeln waren so formuliert, dass die Soldaten nicht ihrer Ausbildung entsprechend reagieren durften. Neunzehnjährige aus Northumberland oder Surrey, die vermeintlich mit dem Auftrag gekommen waren, die katholische Minderheit vor der protestantischen Übermacht zu schützen, gaben ihr Leben, ihre Zukunft, auf den Straßen von Belfast und Derry hin, und während ihr Blut in den Rinnstein floss, sprangen katholische Kinder und Halbstarke um sie herum und jubelten. Diese Männer wurden aus dem Hinterhalt erschossen, oft von großen Wohnblöcken aus, meist waren die Heckenschützen IRA -Leute, die im Schutz organisierter Straßenunruhen und Krawalle operierten. Was den Bloody Sunday im Jahr zuvor anging, so waren unsere Fallschirmjäger mit genau dieser erprobten Taktik – Schlägertrupps aus Derry, unterstützt durch Heckenschützen – an die Wand und zum Äußersten gedrängt worden. Im April hatte der (übrigens in löblich kurzer Zeit erstellte) Widgery-Report diese Tatsachen bestätigt. Aber dennoch, operativ war es schlicht verfehlt, eine kampfbereite und hochmotivierte Einheit wie die Fallschirmjäger zur Überwachung einer Bürgerrechtsdemonstration einzusetzen. Das wäre – so der Brigadier – eine Aufgabe für die Royal Ulster Constabulary gewesen, die nordirische Polizei. Selbst die Soldaten der Royal Anglians hätten die Menge eher beruhigen können.
    Aber es war nun einmal geschehen, dreizehn Zivilisten waren an jenem Tag getötet worden, und mit welchem Ergebnis? Beide Flügel der IRA hatten weltweit Sympathien gewonnen. Geld, Waffen und Rekruten strömten ihnen zu [107] wie reißende Flüsse von Milch und Honig. Gefühlsduselige und ahnungslose Amerikaner, viele von ihnen eher protestantischer als katholischer Herkunft, gossen Öl ins Feuer mit den törichten Dollars, die sie über Organisationen wie NORAID für die republikanische Sache spendeten. Erst wenn es einmal Terroranschläge auf dem Boden der Vereinigten Staaten gäbe, so der

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