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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Tapp ihm Auskunft geben würde.
    Als ich Shirley eingeholt hatte und zur Rede stellte, erklärte sie, das sei doch eine Lappalie, ein Witz. Ich solle mir keine Sorgen machen, sagte sie. Es würde mir nicht schaden, wenn die Leute mich für eine Frau mit einem eigenen Kopf hielten. Aber ich wusste, das Gegenteil war der Fall. Es würde mir sehr schaden. Auf unserer Stufe durfte man keinen eigenen Kopf haben. Ich war zum ersten Mal negativ aufgefallen, und es sollte nicht das letzte Mal sein.

[113] 6
    Ich rechnete mit einem Verweis, doch stattdessen kam mein großer Augenblick – ich wurde in geheimem Auftrag aus dem Haus geschickt, zusammen mit Shirley. Eines Morgens gab uns ein Führungsbeamter namens Tim Le Prevost unsere Instruktionen. Ich kannte ihn vom Sehen, aber er hatte noch nie mit uns gesprochen. Wir wurden in sein Büro gerufen und aufgefordert, genau zuzuhören. Er war ein zugeknöpfter Typ mit schmalen Schultern, kleinem Mund und starrer Miene, ziemlich sicher ein Ex-Soldat. In Mayfair, eine halbe Meile von der Curzon Street entfernt, war in einer verschlossenen Garage ein Lieferwagen abgestellt. Damit sollten wir zu einer Adresse in Fulham fahren. Die gehörte natürlich zu einem sicheren Haus, und in dem braunen Umschlag, den er uns über den Schreibtisch zuwarf, befanden sich diverse Schlüssel. Im Laderaum des Lieferwagens würden wir Putzmittel, einen Staubsauger und Plastikschürzen finden. Die sollten wir anziehen, bevor wir uns an die Arbeit machten. Unsere Legende war, dass wir für eine Firma namens Springklene arbeiteten.
    Am Zielort angekommen, sollten wir das Haus »blitzblank reinigen«, auch alle Betten neu beziehen und die Fenster putzen. Sauberes Bettzeug sei bereits angeliefert. Eine Einzelbett-Matratze müsse gewendet werden. Die [114] hätte schon längst ausgetauscht werden sollen. Toiletten und Bad bedürften besonders gründlicher Reinigung. Die vergammelten Lebensmittel im Kühlschrank seien zu entsorgen, alle Aschenbecher zu leeren. Le Prevost zählte diese häuslichen Einzelheiten mit deutlichem Widerwillen auf. Vor Ladenschluss sollten wir in einem kleinen Supermarkt an der Fulham Road Grundvorräte einkaufen, und genug Lebensmittel für drei Mahlzeiten täglich für zwei Personen und drei Tage. Des Weiteren seien in einem Wein- und Spirituosengeschäft vier Flaschen Johnny Walker Red Label zu beschaffen – keinesfalls irgendein anderer Scotch. Dafür übergab er uns einen weiteren Umschlag mit fünfzig Pfund in Fünfer-Scheinen. Quittungen und Wechselgeld seien ihm auszuhändigen. Beim Verlassen des Hauses sollten wir nicht vergessen, die Haustür dreifach abzuschließen, dafür seien die drei Banham-Schlüssel da. Vor allem aber dürfe uns diese Adresse niemals über die Lippen kommen, nicht einmal gegenüber Kollegen in diesem Gebäude.
    »Oder«, fragte Le Prevost und verzog seinen kleinen Mund, »sollte ich sagen: insbesondere ?«
    Wir durften wegtreten, und als wir draußen waren und die Curzon Street entlanggingen, war es Shirley, nicht ich, die vor Wut kochte.
    »Unsere Legende «, flüsterte sie mehrmals vernehmlich vor sich hin. »Unsere bescheuerte Legende. Putzfrauen, die sich als Putzfrauen ausgeben!«
    Natürlich war das eine Beleidigung, wenn sie auch heutzutage als noch schlimmer empfunden würde. Ich sprach das Naheliegende nicht aus: dass der Geheimdienst schwerlich irgendwelche normalen Reinigungskräfte zu einem [115] sicheren Haus schicken konnte, und auch nicht unsere männlichen Kollegen – erstens ließ sich das nicht mit ihrem Rang vereinen, und zweitens hätten sie schlechte Arbeit abgeliefert. Meine stoische Haltung überraschte mich selbst. Vielleicht hatte ich den Geist der Kameradschaft und heiterer Pflichterfüllung, der unter den Frauen herrschte, inzwischen auch aufgesogen. Langsam wurde ich wie meine Mutter. Sie hatte den Bischof, ich den Geheimdienst. Wie sie hatte ich meine eigene zähe Neigung zum Gehorsam. Ich fragte mich jedoch ernstlich, ob dies der Job war, von dem Max gesagt hatte, er sei genau das Richtige für mich. Falls ja, würde ich nie mehr ein Wort mit ihm reden.
    Wir fanden die Garage und zogen die Schürzen an. Shirley, fest hinters Steuer geklemmt, schimpfte immer noch meuterisch vor sich hin, als wir auf die Piccadilly Street einbogen. Der Lieferwagen war ein Vorkriegsmodell mit Speichenrädern und Trittbrett und wohl eins der letzten überlebenden Gefährte seiner Art. Der Name unserer Firma stand in Art-déco-Schrift

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