Honig
Gedanken an ihre Uni verschwendet, höchstens überlegt, dass ich dort vermutlich glücklicher gewesen wäre als in Cambridge. Und ihre politischen Ansichten – eine vorgestrige Idioten -Orthodoxie. Ich wäre ihr am liebsten nachgelaufen und hätte sie angeschrien. In meinem Kopf jagten sich vernichtende Entgegnungen, die ich alle auf einmal loswerden wollte. Doch ich stand einfach nur sprachlos da, ging dann ein paarmal um den Küchentisch herum und schleppte endlich den Staubsauger, ein Hochleistungsgerät, in das kleine Schlafzimmer mit der blutigen Matratze.
Nur deshalb putzte ich das Zimmer so gründlich. Während ich mit wütender Energie ans Werk ging, spulte ich den Wortwechsel mit Shirley immer wieder von vorne ab, wobei sich das, was ich tatsächlich gesagt hatte, immer mehr mit dem vermischte, was ich gern gesagt hätte. Kurz vor unserer Teepause hatte ich einen Eimer mit Wasser gefüllt, um die Fensterrahmen zu reinigen. Nun beschloss ich, mit den Fußbodenleisten anzufangen. Dazu musste ich auf dem Boden knien, also wollte ich vorher den Teppich saugen und trug ein paar Möbelstücke auf den Flur hinaus – einen Nachttisch und zwei Holzstühle, die neben dem Bett standen. Unter dem Bett, an der Wand, fand ich die einzige Steckdose im Raum, eine Leselampe war dort schon [122] eingesteckt. Ich musste mich seitlich auf den Boden legen und sehr lang strecken, um da ranzukommen. Dort unten hatte seit Ewigkeiten niemand mehr saubergemacht. Ich sah dicke Staubflusen, ein paar gebrauchte Papiertaschentücher und eine schmutzige weiße Socke. Der Stecker ließ sich nur mit Mühe herausruckeln. Ich dachte noch immer an Shirley und was ich ihr als Nächstes sagen wollte. Wenn es ernst wird, bin ich ein Feigling. Vermutlich würden wir die englische Lösung wählen und beide einfach so tun, als hätte das Gespräch nie stattgefunden, und das machte mich noch wütender.
Dann streifte mein Handgelenk ein Stück Papier, das hinter einem Bettpfosten lag. Es war dreieckig, an der Hypotenuse keine zehn Zentimeter lang, die obere rechte Ecke einer Times- Seite, die jemand herausgerissen hatte. Auf der Vorderseite stand in der vertrauten Times -Typographie: »Olympische Spiele: Vollständiges Programm, S. 5«. Auf der Rückseite längs einem der geraden Ränder eine schemenhafte Bleistiftnotiz. Ich kroch wieder unter dem Bett hervor und setzte mich darauf, um mir den Zettel genauer anzusehen. Lange begriff ich gar nichts, bis ich merkte, dass ich ihn verkehrt herum hielt. Dann fielen mir als Erstes zwei Kleinbuchstaben ins Auge: »tc«. Darunter stand ein Wort, das durch den Riss abgeschnitten wurde. Die Schrift war blass, als habe der Schreiber nur ganz leichten Druck ausgeübt, aber die Buchstaben waren deutlich zu erkennen: »umlinge«. Unmittelbar vor dem »u« war ein schräger Strich, bei dem es sich nur um den Fuß des Buchstabens »k« handeln konnte. Ich drehte den Zettel wieder auf den Kopf, in der Hoffnung, die Buchstaben würden doch noch [123] etwas anderes ergeben und beweisen, dass meine Phantasie mir einen Streich spielte. Aber da gab es nichts zu deuteln. Seine Initialen, seine Insel. Aber nicht seine Handschrift. Binnen Sekunden war meine Stimmung umgeschlagen, von Wut zu einer komplexeren Mischung aus Verblüffung und unbestimmter Beklemmung.
Natürlich dachte ich als Erstes an Max. Ich kannte sonst niemanden, der den Namen der Insel wusste. Im Nachruf war er nicht erwähnt worden, auch Jeremy Mott wusste wahrscheinlich nicht, welche Ostsee-Insel es genau war. Tony hatte viele alte Bekannte im Geheimdienst, selbst wenn nur noch wenige von ihnen aktiv dabei waren. Höchstens ein paar hohe Tiere vielleicht. Die wussten bestimmt nichts von Kumlinge. Aber von Max eine Erklärung zu verlangen, hielt ich für gar keine gute Idee. Damit gäbe ich etwas preis, was ich besser für mich behielt. Und die Wahrheit würde er mir ohnehin nur sagen, wenn es ihm in den Kram passte. Sofern er überhaupt irgendetwas Mitteilenswertes wusste, hatte er mich schon längst hintergangen, indem er es mir verschwieg. Ich dachte an unser Gespräch im Park und seine hartnäckigen Fragen. Dann sah ich mir noch einmal den Zettel an. Ziemlich alt, leicht vergilbt. Wenn dies ein echtes Rätsel war, besaß ich nicht genug Informationen, um es zu lösen. In dieses Vakuum schob sich ein abwegiger Gedanke. Das »k« auf unserem Lieferwagen war der fehlende Buchstabe, verkleidet als Putzfrau – genau wie ich. Ja, alles hing zusammen!
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