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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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richtigen Fußballspiel.
    »Niemand hatte viel. Aber sie hatten genug. Nach zehn Tagen dachte ich, nein, das funktioniert tatsächlich, das ist besser als Ilford.«
    »Vielleicht ist alles besser als Ilford. Besonders auf dem Land. Shirley, so eine gute Erfahrung hättest du auch im Umland von Dorking machen können.«
    »Nein, ehrlich, das war was anderes. Die Leute waren füreinander da.«
    Das klang vertraut. Ein paar Zeitungsartikel und eine Fernsehdokumentation hatten triumphierend berichtet, dass Ostdeutschland in puncto Lebensstandard Großbritannien überholt habe. Als Jahre später die Mauer fiel und die Bücher aufgetan wurden, erwies sich das als Unsinn. Die DDR war eine Katastrophe. Die Fakten und Zahlen, die die Leute für bare Münze genommen hatten, nehmen wollten , stammten von der Partei. Aber in den Siebzigern herrschte in England eine masochistische Stimmung, nur allzu gern wollte man glauben, dass jedes Land der Welt, selbst Obervolta, uns wirtschaftlich bald überflügeln würde.
    [119] Ich sagte: »Hier sind die Leute auch füreinander da.«
    »Na schön. Überall sind alle füreinander da. Aber wogegen kämpfen wir dann?«
    »Gegen einen paranoiden Einparteienstaat, ohne freie Presse, ohne Reisefreiheit. Eine Nation als Gefängnis. Solche Sachen.« Ich meinte, Tony sprechen zu hören.
    »Das hier ist ein Einparteienstaat. Unsere Presse ist ein Witz. Und die Armen können nirgendwohin reisen.«
    »Shirley, also wirklich!«
    »Unsere Einheitspartei ist das Parlament. Heath und Wilson gehören derselben Elite an.«
    »Was für ein Unsinn!«
    Wir hatten noch nie über Politik geredet. Immer nur über Musik, Familie, persönliche Vorlieben. Ich dachte, meine Kollegen hätten alle ungefähr dieselben Ansichten. Ich musterte Shirley genau – nahm sie mich auf den Arm? Sie schaute weg, griff gereizt über den Tisch nach der nächsten Zigarette. Sie war wütend. Ich wollte keinen Streit mit meiner neuen Freundin, senkte die Stimme und sagte sanft: »Aber wenn du so denkst, Shirley, warum arbeitest du dann bei diesem Verein?«
    »Keine Ahnung. Vielleicht meinem Dad zuliebe. Hab ihm was von Staatsdienst erzählt. Ich hätte nicht gedacht, dass die mich nehmen. Doch dann waren alle ganz stolz. Ich auch. Kam mir vor wie ein Sieg. Aber du weißt ja, wie es ist – wenigstens eine mussten die doch einstellen, die nicht in Oxford oder Cambridge studiert hat. Ich bin bloß die Quotenproletin. Na ja.« Sie stand auf. »So, und jetzt machen wir besser weiter mit unserer extrem wichtigen Arbeit.«
    [120] Auch ich stand auf. Mir war nicht wohl in meiner Haut, und ich war froh, das Gespräch hinter mir zu haben.
    »Ich mach das Wohnzimmer fertig«, sagte sie und blieb in der Küchentür stehen. Sie bot einen traurigen Anblick: ihr praller Leib unter der Plastikschürze, die Haare, die ihr auch nach unserer Teepause noch verschwitzt in der Stirn klebten.
    Sie sagte: »Komm schon, Serena, du glaubst doch nicht im Ernst, dass das alles so simpel ist. Dass wir schlicht und einfach auf der Seite der Guten sind.«
    Ich zuckte die Schultern. Genaugenommen glaubte ich das tatsächlich, vergleichsweise zumindest, aber ihr Ton war so gallig, dass ich das lieber für mich behielt. Ich sagte: »Wenn die Leute in Osteuropa, auch in deiner DDR , frei wählen könnten, würden sie die Russen rausschmeißen. Die KP hätte keine Chance. Die halten sich nur durch Gewalt. Und dagegen habe ich was.«
    »Meinst du etwa, die Leute hier würden die Amerikaner nicht auch am liebsten aus ihren Militärbasen rausschmeißen? Muss dir doch aufgefallen sein – wir haben da auch keine Wahl.«
    Ich wollte gerade antworten, als Shirley sich ein Staubtuch und eine lavendelfarbene Sprühdose mit Möbelpolitur schnappte und aus der Küche ging, wobei sie mir über die Schulter zurief: »Du bist auf die ganze Propaganda reingefallen, Mädchen. Es gibt noch eine andere Realität als die der Mittelschicht.«
    Jetzt war ich wütend, die Wut verschlug mir die Sprache. In den letzten paar Minuten hatte Shirley ihren stärksten Cockney-Akzent hervorgekehrt, um sich als echtes [121] Arbeitermädchen von mir abzusetzen. Wie konnte sie nur so herablassend sein? Es gibt noch eine andere Realität als die der Mittelschicht! Unerträglich. Ihre »Realität« hatte einen grotesken glottalen Beiklang gehabt. Was war bloß in sie gefahren, dass sie unsere Freundschaft so in den Dreck zog und sich als Quotenproletin bezeichnete? Nie hatte ich auch nur einen

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