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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Literatur auf so technokratische Weise quantifizieren konnte, war mir vollkommen neu. Meine Ahnungslosigkeit lähmte mir die Zunge.
    Ich sagte: »Und Ein Liebespaar, der Mann mit der Schaufensterpuppe – die Geschichte war so seltsam und dabei so überzeugend, dass alle ganz hingerissen waren.« Es war geradezu befreiend, ihm jetzt glatte Lügen aufzutischen. »Wir haben zwei Professoren und zwei bekannte Literaturkritiker im Vorstand. Die bekommen eine Menge neue Sachen zu lesen. Aber Sie hätten mal hören sollen, wie begeistert die bei unserem letzten Treffen waren. Ehrlich, Tom, die konnten gar nicht aufhören, von Ihren Erzählungen zu schwärmen. Am Ende gab es zum ersten Mal überhaupt ein einstimmiges Votum.«
    Das schmale Lächeln war verschwunden. Er sah mich mit entrücktem Blick an, als hätte ich ihn hypnotisiert. Das ging ihm unter die Haut.
    »Na ja«, sagte er und schüttelte den Kopf, um sich aus seinem Trancezustand zu reißen. »Das ist ja alles sehr erfreulich. Was soll ich sonst sagen?« Dann fügte er hinzu: »Wer sind die beiden Kritiker?«
    [209] »Leider muss ihre Anonymität strikt gewahrt bleiben.«
    »Verstehe.«
    Er wandte sich kurz von mir ab und schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Dann sagte er: »Also, was haben Sie mir anzubieten, und was verlangen Sie von mir?«
    »Darf ich das mit einer Gegenfrage beantworten? Was werden Sie tun, wenn Sie Ihre Dissertation abgeschlossen haben?«
    »Mich verschiedenenorts um eine Dozentenstelle bewerben, auch hier.«
    »Vollzeit?«
    »Ja.«
    »Wir möchten es Ihnen ermöglichen, keinem Brotberuf nachgehen zu müssen. Stattdessen könnten Sie sich aufs Schreiben konzentrieren, auch Journalistisches, wenn Sie wollen.«
    Er fragte, um wie viel Geld es gehe, und ich sagte es ihm. Er fragte, für wie lange, und ich antwortete: »Zwei oder drei Jahre.«
    »Und wenn ich in der Zeit nichts schreibe?«
    »Wären wir enttäuscht und würden uns den nächsten Kandidaten suchen. Wir werden das Geld nicht zurückverlangen.«
    Er hörte sich das an, dann sagte er: »Und dafür soll ich Ihnen die Rechte an meinen Sachen übertragen?«
    »Nein. Und wir verlangen auch nicht, dass Sie uns Ihre Arbeit vorlegen. Sie brauchen uns nicht einmal öffentlich zu danken. Die Stiftung hält Sie für ganz außerordentlich talentiert. Wenn Ihre Erzählungen und Artikel geschrieben, veröffentlicht und gelesen werden, sind wir zufrieden. [210] Sobald Sie künstlerisch und finanziell auf eigenen Füßen stehen, haben wir unser Ziel erreicht und ziehen uns aus Ihrem Leben zurück.«
    Er stand auf, ging um den Schreibtisch herum zum Fenster, wandte mir den Rücken zu. Er fuhr sich durch die Haare und murmelte leise vor sich hin, »lächerlich« vielleicht oder »jetzt reicht’s allmählich«. Er sah in denselben Raum auf der anderen Seite des Rasens hinüber. Jetzt las der bärtige Junge seinen Aufsatz vor, während seine Kommilitonin ausdruckslos ins Leere starrte. Merkwürdigerweise sprach die Dozentin derweil in einen Telefonhörer.
    Tom setzte sich wieder und verschränkte die Arme. Er richtete den Blick auf eine Stelle über meiner Schulter und presste die Lippen zusammen. Offenbar wollte er einen gravierenden Einwand vorbringen.
    Ich sagte: »Denken Sie ein paar Tage darüber nach, sprechen Sie mit Freunden… Lassen Sie sich Zeit.«
    Er sagte: »Die Sache ist die…«, und verstummte. Er senkte den Blick und fuhr fort: »Folgendes. Dieses Problem beschäftigt mich Tag für Tag. Es ist für mich die wichtigste Frage überhaupt. Sie bereitet mir schlaflose Nächte. Es sind immer dieselben vier Schritte. Erstens, ich möchte einen Roman schreiben. Zweitens, ich bin pleite. Drittens, ich brauche einen Job. Viertens, der Job wird mir das Schreiben unmöglich machen. Ich sehe keinen Ausweg. Es gibt keinen. Und plötzlich klopft eine nette junge Frau an meine Tür und stellt mir einfach so ein dickes Stipendium in Aussicht, ohne Gegenleistung. Es ist zu schön, um wahr zu sein. Ich bin misstrauisch.«
    »Tom, ganz so simpel, wie Sie es darstellen, ist es nicht. [211] Sie spielen bei der Sache nicht bloß eine passive Rolle. Den ersten Schritt haben Sie selbst getan. Sie haben diese brillanten Erzählungen geschrieben. In London redet man schon von Ihnen. Was glauben Sie, wie wir auf Sie gestoßen sind? Sie haben sich Ihr Glück selbst zu verdanken, Ihrem Talent und harter Arbeit.«
    Ironisches Lächeln, Kopf zur Seite – Fortschritt.
    Er sagte: »Es gefällt mir, wenn

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