Honig
mehr als nur zwei oder drei Sekunden lang, dann sah ich weg. Nachdem ich alles von ihm gelesen, einen Winkel seiner Seele allzu gut kennengelernt hatte, fiel es mir schwer, ihm länger in die Augen zu schauen. Ich ließ den Blick unter sein Kinn sinken und bemerkte ein zierliches Silberkettchen um seinen Hals.
»Sie sprachen von Schriftstellern am Anfang ihrer Karriere.« Wie souverän er jetzt die Rolle des freundlichen Professors spielte, der einer nervösen Bewerberin durch ihr Aufnahmegespräch half. Ich musste unbedingt wieder das Heft in die Hand bekommen.
Ich sagte: »Schauen Sie, Mr. Haley…«
»Tom.«
»Ich möchte Ihre Zeit nicht unnötig beanspruchen. Wir werden von sehr guten Leuten beraten, von Kapazitäten. Die geben ihre Empfehlungen nicht leichtfertig ab. Sie mögen Ihre journalistischen Arbeiten, und von Ihren Erzählungen sind sie begeistert. Absolut begeistert. Man erhofft sich…«
[206] »Und Sie. Haben Sie sie gelesen?«
»Selbstverständlich.«
»Und was sagen Sie dazu?«
»Ich bin nur die Botin. Was ich denke, ist nebensächlich.«
»Für mich nicht. Also, was halten Sie davon?«
Der Raum schien sich zu verdunkeln. Ich sah an Haley vorbei aus dem Fenster. Da waren ein Grasstreifen und die Ecke eines anderen Gebäudes. Ich sah direkt in ein Zimmer wie das, in dem wir hier saßen, ein Kurs wurde darin abgehalten. Ein Mädchen, nicht viel jünger als ich, las ihre Arbeit vor. Neben ihr saß ein Junge in Bomberjacke, stützte sein bärtiges Kinn auf und nickte weise. Die Dozentin stand mit dem Rücken zu mir. Ich konzentrierte mich wieder auf unser Zimmer und fragte mich, ob ich es mit meiner Kunstpause nicht übertrieb. Wieder sahen wir uns in die Augen, und ich zwang mich, Haleys Blick standzuhalten. Was für ein seltsames Dunkelgrün, was für kindlich lange Wimpern und dichte schwarze Brauen. Aber in seinem Blick lag ein Zögern, gleich würde er ihn abwenden. Diesmal ginge der Sieg an mich.
Ich sagte ganz ruhig: »Ich halte Ihre Erzählungen für absolut phantastisch.«
Er zuckte zusammen, als habe ihm jemand den Finger in die Brust oder gar ins Herz gebohrt, und gab ein leises Glucksen von sich, nicht ganz ein Lachen. Er wollte etwas sagen, fand aber keine Worte. Er starrte mich an, lauernd, er wollte noch mehr hören über sich und sein Talent, aber ich hielt mich zurück. Ich fand, meine Worte hätten mehr Durchschlagskraft, je weniger ich sagte. Und ich war mir [207] nicht sicher, ob mir überhaupt etwas Tiefschürfendes eingefallen wäre. Die Förmlichkeit zwischen uns war wie weggeblasen, und dahinter war ein peinliches Geheimnis zum Vorschein gekommen. Ich hatte seinen Hunger nach Anerkennung freigelegt, nach Lob, nach allem, was ich ihm geben konnte. Daran lag ihm wohl am meisten. Seine Erzählungen in den verschiedenen Zeitschriften waren vermutlich, abgesehen vom routinemäßigen Dank und Schulterklopfen irgendeines Redakteurs, sang- und klanglos untergegangen. Wahrscheinlich hatte keiner, zumindest kein Fremder, ihm jemals gesagt, wie phantastisch seine Prosa war. Jetzt hörte er es und erkannte, dass er das schon immer vermutet hatte. Ich hatte ihm eine umwerfende Nachricht überbracht. Wie konnte er wissen, dass er etwas taugte, wenn niemand es ihm bestätigte? Und jetzt wusste er es, es stimmte tatsächlich, und er war dankbar.
Sobald er sprach, verflog der Zauber, und das Zimmer sah wieder genauso aus wie vorher. »Hat Ihnen denn irgendeine besonders gefallen?«
Das war eine so dämliche, durchsichtige Frage, dass er mir in seiner ganzen Verwundbarkeit sympathisch wurde. »Bemerkenswert sind sie alle«, sagte ich. »Aber die über die Zwillingsbrüder, Das ist Liebe, finde ich die anspruchsvollste. Meiner Meinung nach hat sie sogar Roman-Format. Ein Roman über Glauben und Gefühl. Und diese Jean – was für eine wunderbare Figur, so unsicher und zerstörerisch und verlockend. Das ist ein großartiger Text. Haben Sie je daran gedacht, die Geschichte zu einem Roman auszuarbeiten, das Ganze sozusagen ein wenig zu strecken?«
Er sah mich neugierig an. »Nein, ich habe nie daran [208] gedacht, das Ganze ein wenig zu strecken.« Die trockene Wiederholung meiner Worte alarmierte mich.
»Entschuldigen Sie, das war eine dumme…«
»Der Text hat genau die Länge, die mir vorschwebte. Rund fünfzehntausend Wörter. Aber es freut mich, dass er Ihnen gefallen hat.«
Er verzieh mir mit einem spöttisch süffisanten Lächeln, aber mein Vorteil war dahin. Dass man
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