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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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vernahm sie klar und deutlich, Tonys Rechtfertigung, in einem Ton, der besagte, nur eine Närrin könnte da widersprechen. Meine Liebe. Du erinnerst dich doch hoffentlich an unsere erste Lektion. Diese furchterregenden [243] neuen Waffen sind nur durch ein Gleichgewicht der Kräfte zu bändigen, durch wechselseitige Furcht, wechselseitigen Respekt. Selbst wenn das bedeutet, Geheimnisse an eine Diktatur zu verraten: immer noch besser als die einseitige Herrschaft der Amerikaner und ihrer Arroganz. Denk doch bitte an die Jahre nach 1945 zurück, an die Forderungen aus der amerikanischen Rechten nach einer atomaren Vernichtung der Sowjetunion, solange die noch nicht zum Gegenschlag gerüstet sei. Wie diese heimtückische Logik ignorieren? Wenn Japan so eine Waffe gehabt hätte, wäre es niemals zum Horror von Hiroshima gekommen. Nur ein Gleichgewicht der Kräfte kann den Frieden aufrechterhalten. Ich habe getan, was ich tun musste. Der Kalte Krieg brach an. Die Welt hatte sich in zwei feindliche Lager geteilt. Ich stand mit meinen Ansichten nicht allein. Mochten in der Sowjetunion noch so groteske Missstände herrschen, sie sollte dennoch über das gleiche Waffenarsenal verfügen. Kleingeister können mir ruhig Vaterlandsverrat vorwerfen – wer nüchtern denkt, handelt für den Weltfrieden und den Fortbestand der Zivilisation.
    »Nun«, fragte Max. »Hast du nichts zu sagen?«
    In seinem Ton schwang der Vorwurf mit, ich sei mitschuldig oder irgendwie mitverantwortlich. Ich schwieg ein wenig, um die Frage zu neutralisieren. Dann sagte ich: »Hat man ihn vor seinem Tod zur Rede gestellt?«
    »Das weiß ich nicht. Ich kenne auch nur die Gerüchte, die aus der fünften Etage nach unten gesickert sind. Zeit hätte man reichlich gehabt – etwa sechs Monate.«
    Ich dachte an das Auto, dem die zwei Männer im Anzug entstiegen waren, an meinen erzwungenen [244] Waldspaziergang und an unsere überstürzte Rückkehr nach Cambridge. In den ersten Minuten nach Max’ Enthüllung empfand ich nicht viel. Ihre Tragweite war mir klar, ich wusste, mich würden heftige Gefühle bestürmen, aber um mich ihnen zu stellen, musste ich allein sein. Vorläufig verschanzte ich mich hinter einem widersinnigen Groll gegen Max: Ich gab dem Boten die Schuld. An Tom Haley ließ er kein gutes Haar, und jetzt zog er meinen ehemaligen Geliebten in den Schmutz; offenbar wollte er alle Männer aus meinem Leben radieren. Er hätte die Sache mit Canning für sich behalten können. Es war nur ein Gerücht, und selbst wenn es stimmte, gab es keinen einsatzrelevanten Grund, mir davon zu erzählen. Ein seltener Fall von zeitgleicher Eifersucht im Vor- und im Nachhinein. Wenn er mich nicht haben konnte, dann auch kein anderer, nicht einmal in der Vergangenheit.
    Ich sagte: »Tony war kein Kommunist.«
    »Vermutlich hat er in den dreißiger Jahren ein bisschen damit geliebäugelt, wie alle anderen auch.«
    »Er war in der Labour Party. Er hat die Schauprozesse und Säuberungen gehasst. Er hat immer gesagt, bei der Pazifismus-Debatte in der Oxford Union hätte er für König und Vaterland gestimmt.«
    Max hob die Schultern. »Ich verstehe schon, das ist sicher hart für dich.«
    Aber er verstand gar nichts, so wenig wie ich im Augenblick.
    Von Max’ Büro ging ich direkt an meinen Schreibtisch, entschlossen, mich mit den anstehenden Aufgaben zu betäuben. Zum Nachdenken war es noch zu früh. Besser gesagt, ich wagte nicht nachzudenken. Ich stand unter Schock [245] und erledigte meine Pflichten wie ein Automat. Inzwischen arbeitete ich mit einem Führungsbeamten namens Chas Mount zusammen, einem freundlichen Ex-Soldaten und ehemaligen Computerverkäufer, der mir bereitwillig Verantwortung übertragen hatte. Auch ich durfte mich jetzt endlich mit Irland befassen. Wir hatten zwei Agenten bei der Provisorischen IRA – vielleicht auch mehr, aber ich wusste nur von diesen beiden. Und die beiden wussten nichts voneinander. Sie waren Schläfer, eigentlich sollten sie sich ein paar Jahre Zeit lassen und in der militärischen Hierarchie aufsteigen, aber von dem einen hatten wir praktisch sofort eine Flut von Informationen über Waffennachschubquellen bekommen. Wir mussten die Akten erweitern und umstrukturieren, Unterkategorien anlegen und neue Akten für die Lieferanten und Mittelsmänner eröffnen, mit Kreuzverweisen und genügend Durchschlägen, damit fehlgeleitete Anfragen doch noch an der richtigen Stelle landeten. Wir wussten nichts über unsere Agenten – für

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