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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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führen. Es bleiben immer irgendwelche Kleinigkeiten offen, Dinge aus der Vergangenheit, alte Geschichten mit neuen Aspekten, Fragen zu Abläufen, Strukturen, Gefechtsformationen und so weiter. Da gibt es zum Beispiel ein kleines Rätsel, ein Kryptonym, das niemand knacken konnte, weil die Informationen zu schwammig waren. Ein Engländer, Codename Volt, der ganz am Ende der Vierziger aktiv war, bis 1950. Hat für uns gearbeitet, nicht für den MI 6. Es ging um die Wasserstoffbombe. Nicht direkt unser Feld. Auch nichts Spektakuläres wie Fuchs, nichts Technisches. Nicht einmal langfristige Planung oder Logistik. Lyalin hatte das Volt-Material noch zu seiner Zeit in Moskau gesehen. Besonders aufschlussreich war es nicht, aber er wusste, die Quelle war beim MI 5. Es war spekulatives Zeug, Was-wäre-wenn-Gedankenspiele – was die Amerikaner Szenarios nennen. Wir nennen das ein Luxuswochenende auf dem Land. Heiße Luft. Was, wenn die Chinesen die Bombe kriegen, wie teuer kommt uns ein Präventivschlag, wie groß ist das optimale Raketenarsenal, wenn wir von Kostenbeschränkungen abstrahieren, und sei doch so lieb und reich mir den Port.«
    An dieser Stelle ahnte ich, was jetzt kam. Oder mein Körper wusste es. Mein Herz schlug ein wenig schneller.
    »Unsere Leute waren monatelang an der Sache dran, aber wir wussten zu wenig über Volt, um ihn mit irgendwem auf unserer Lohnliste identifizieren zu können. Dann [241] ist letztes Jahr jemand in Buenos Aires zu den Amerikanern übergelaufen. Keine Ahnung, was unsere Freunde alles von ihm erfahren haben. Ich weiß aber, dass sie nicht richtig damit rausrücken wollten, vermutlich immer noch eingeschnappt wegen der Ausweisungen. Doch das bisschen, was sie uns gegeben haben, hat schon gereicht.«
    Er hielt kurz inne. »Du weißt, worauf das hinausläuft, oder?«
    Ich wollte »Ja« sagen, aber meine Zunge versagte mir den Dienst. Ich brachte nur ein Grunzen zustande.
    »Also, Folgendes. Vor gut zwanzig Jahren hat Canning Informationen an einen Kontaktmann weitergegeben. Etwa fünfzehn Monate lang. Falls noch brisanteres Zeug dabei war, wissen wir nichts davon. Wir wissen auch nicht, warum es dann aufgehört hat. Vielleicht war es für alle Beteiligten eine Enttäuschung.«
    Während ich, damals noch ein Einzelkind, mit einem hübschen Mützchen auf dem Kopf in meinem gutgefederten, königsblauen Kinderwagen mit den silbernen Speichen vom Pfarrhaus zu den Dorfläden kutschiert wurde, verhandelte Tony also mit einem Kontaktmann und ließ in seiner großspurigen Art ein paar russische Redewendungen einfließen. Ich sah ihn vor mir, in einer Imbissbude an einer Bushaltestelle, wie er einen gefalteten braunen Umschlag aus der Innentasche seines Zweireihers zog. Vielleicht ein bedauerndes Lächeln, ein Achselzucken, weil das Material nicht erstklassig war – er war immer gern der Beste. Aber sein Gesicht sah ich nicht richtig. In den vergangenen Monaten war es mir jedes Mal entglitten, wenn ich sein Bild heraufbeschwor. Vielleicht hatte ich deswegen nicht mehr [242] so gelitten. Oder umgekehrt: Das Nachlassen meiner Trauer hatte seine Züge ausgelöscht.
    Aber nicht seine Stimme. Das innere Ohr ist das feinere Organ. Ich konnte Tonys Stimme in meinem Kopf abspielen wie ein Radio. Seine Art, den Ton bei einer Frage erst im allerletzten Moment zu heben, sein irgendwie verwaschenes »r«, bestimmte skeptische Formulierungen – »Wenn du meinst«, »Das würde ich so nicht sagen«, »Nun ja, in gewisser Weise« und »Moment mal« –, seine sonore Stimme, die nach Cambridge und teurem Bordeaux klang, seine felsenfeste Überzeugung, dass ihm niemals etwas Dummes oder Extremes über die Lippen kommen würde. Nur wohlüberlegte, ausgewogene Ansichten. Deshalb konnte ich buchstäblich hören, wie er mir das beim Frühstück im Cottage alles erklärt hätte, während die Frühsommersonne durch die offene, mit unzähligen, unerklärlichen Nieten beschlagene Haustür die Steinplatten im Esszimmer beschien und dessen kalkweiß getünchte Rückwand erstrahlen ließ, an der das Churchill-Aquarell hing. Auf dem Tisch zwischen uns trüber Kaffee, nach Tonys Spezialmethode ohne Filter in der Kanne aufgebrüht, zusammen mit einer Prise Salz, und auf dem blassgrünen Teller mit der spinnwebartig gesprungenen Glasur Stapel von Toastscheiben, bleich wie altbackenes Brot, und daneben ein Glas hausgemachte bittere Orangenmarmelade mit groben Stücken, ein Geschenk der Schwester der Haushälterin.
    Ich

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