Honig
uns waren sie nur »Helium« und »Pik«, aber ich dachte oft an sie und an die ständige Gefahr, in der sie schwebten. Wie behütet war ich dagegen hier in meinem schmutzigen Büro, über das ich mich so oft beklagte. Die beiden, ziemlich sicher irische Katholiken, gingen zu Versammlungen in winzigen Wohnzimmern in Bogside oder in Hinterzimmern von Pubs, immer im Bewusstsein, dass sie beim kleinsten Patzer, bei der geringsten widersprüchlichen Bemerkung mit einer Kugel im Hinterkopf enden konnten. Und ihre Leichen auf der Straße, damit jeder sah, was Denunzianten blühte. Wenn sie glaubhaft sein wollten, mussten sie ihre Rolle bis zur letzten Konsequenz spielen. Pik hatte bereits, [246] um seine Tarnung zu wahren, bei einem Hinterhalt zwei britische Soldaten schwer verwundet und war auch in die Tötung einiger Ulster-Constabulary-Leute und die Folterung und Ermordung eines Polizeispitzels involviert gewesen.
Pik, Helium und jetzt Volt. Nachdem ich mich zwei Stunden lang bemüht hatte, Tony aus meinen Gedanken zu verdrängen, ging ich zur Damentoilette, schloss mich in eine Kabine ein, blieb dort ein Weilchen sitzen und versuchte die Neuigkeit zu verarbeiten. Ich wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen, andererseits gab es in meinem Gefühlsaufruhr auch trockene Elemente von Wut und Enttäuschung. Das war alles so lange her, und er war tot, aber seine Tat erschien mir so frisch, als sei sie erst gestern geschehen. Ich glaubte zu wissen, was für Argumente er angeführt hätte, aber akzeptieren konnte ich sie nicht. Du hast deine Freunde und Kollegen verraten, hörte ich mich bei jenem sonnenhellen Frühstück sagen. Das war unehrenhaft, und wenn es einmal ans Licht kommt, und irgendwann kommt es ans Licht, dann wird es das Einzige sein, was man von dir in Erinnerung behält. Alles, was du sonst geleistet hast, wird daneben verblassen. Nur noch das verbindet man dann mit deinem Namen, denn letztlich ist Realität gesellschaftlich konstituiert, wir leben immer mit und unter anderen Menschen, und ihr Urteil zählt. Auch, und sogar erst recht, wenn wir tot sind. Für die Lebenden wird deine gesamte Existenz auf etwas Schäbiges und Infames reduziert sein. Man wird überzeugt sein, dass du noch mehr Schaden anrichten wolltest, als du tatsächlich angerichtet hast, dass du auch komplette Konstruktionspläne weitergegeben [247] hättest, wenn du da rangekommen wärst. Wenn du wirklich geglaubt hast, dass du edel und vernünftig handelst – warum hast du das dann nicht öffentlich bekannt, deine Argumente vorgetragen und die Konsequenzen auf dich genommen? Wenn Stalin schon um der Revolution willen zwanzig Millionen seiner Landsleute ermorden und verhungern ließ, woher willst du dann wissen, dass er bei einem atomaren Schlagabtausch nicht noch viel mehr dafür opfern würde? Wenn ein Diktator Menschenleben so viel geringer achtet als ein amerikanischer Präsident, wo bleibt dann dein Gleichgewicht der Kräfte?
In einer Toilettenkabine mit einem Toten zu streiten ist eine klaustrophobische Erfahrung. Ich ging hinaus, spritzte mir am Waschbecken kaltes Wasser ins Gesicht, schminkte mich nach und kehrte an meinen Schreibtisch zurück. In der Mittagspause musste ich dringend an die frische Luft. Es hatte aufgehört zu regnen, die Bürgersteige glänzten blitzblank im unverhofften Sonnenschein. Aber bei dem schneidenden Wind war an einen Spaziergang im Park nicht zu denken. Raschen Schritts und voller irrationaler Gedanken ging ich die Curzon Street entlang. Ich war wütend auf Max, weil er mir das erzählt hatte, wütend auf Tony, weil er nicht mehr lebte, weil er mich mit der Last seiner Verfehlungen allein gelassen hatte. Und da er mich in dieses Metier geschleust hatte – inzwischen war das für mich mehr als nur ein Job –, blieb etwas von seiner Illoyalität an mir hängen. Sein Name stand nun auf einer unrühmlichen Liste mit Nunn May, den Rosenbergs und mit Fuchs, aber anders als sie hatte er noch nicht einmal irgendetwas Wichtiges weitergegeben. Er war eine Fußnote in der [248] Geschichte der Atomspionage, und ich war eine Fußnote zu seinem Verrat. Ich schrumpfte dadurch. Zumindest in den Augen von Max, so viel war klar. Noch ein Grund, wütend auf ihn zu sein. Und ich war wütend auf mich selbst, dass ich Närrin mir jemals eingebildet hatte, dieser verklemmte Idiot mit den Henkelohren könnte mich glücklich machen. Ein Segen, dass seine lachhafte Verlobung mich von dem Wahn kuriert hatte.
Ich überquerte
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