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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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den Berkeley Square, wo wir uns den Nachtigall-Song ins Gedächtnis gerufen hatten, und bog dann rechts ab in Richtung Picadilly, in die Berkeley Street. An der U-Bahn-Station Green Park sah ich die Zeitungsschlagzeilen der Mittagsausgaben. Benzinrationierung, Energiekrise, baldige Rede von Heath an die Nation. War mir alles egal. Ich steuerte auf Hyde Park Corner zu. Die Wut hatte meinen Hunger vertrieben. Meine Fußballen prickelten so komisch, am liebsten wäre ich losgerannt oder hätte um mich getreten. Oder Tennis gespielt mit einem erbitterten Gegner, einem, den ich vom Platz fegen konnte. Ich wollte irgendwen anbrüllen – das war’s, ich wollte einen richtigen Streit mit Tony, und dann wollte ich ihn verlassen, ehe er mich verlassen konnte. Der Wind blies mir noch schärfer ins Gesicht, als ich in die Park Lane einbog. Wolken türmten sich über Marble Arch, bereit, noch einmal auf mich niederzuregnen. Ich beschleunigte den Schritt.
    Mein Weg führte an der Post vorbei, und ich ging hinein, nicht zuletzt, um der Kälte zu entfliehen. Ich hatte ja erst vor wenigen Stunden im Postfach nachgesehen und rechnete nicht damit, etwas vorzufinden, aber auf einmal war da ein Brief, abgestempelt in Brighton, Datum vom Vortag. [249] Hastig wie ein Kind an Weihnachten riss ich den Umschlag auf. Bitte wenigstens eine gute Nachricht heute, dachte ich und ging zum Lesen vor die Glastür. Liebe Serena. Die Nachricht war tatsächlich gut. Sogar mehr als gut. Tom entschuldigte sich, dass er sich erst jetzt zurückmelde. Unser Treffen habe er in guter Erinnerung, er habe gründlich über mein Angebot nachgedacht und nehme es an. Er sei dankbar, das Stipendium sei ein echter Glücksfall. Und dann begann ein neuer Absatz. Ich hielt mir den Brief dicht vor die Augen. Er schrieb mit Füllfederhalter, ein Wort war durchgestrichen, die Tinte verschmiert. Er stellte eine Bedingung.
    Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich mit Ihnen gern in regelmäßigem Kontakt bleiben – aus zwei Gründen. Erstens wäre es mir lieb, wenn diese großzügige Stiftung ein menschliches Antlitz hat und das Geld, das mir monatlich zufließt, nicht bloß eine unpersönliche, bürokratische Angelegenheit ist. Zweitens haben Ihre anerkennenden Worte mir viel bedeutet, mehr, als ich in einem Brief wie diesem sagen kann. Ich würde Ihnen gerne von Zeit zu Zeit meine Arbeit zeigen. Ich versichere Ihnen, dass ich nicht nur auf Lob und Ermunterung aus bin. Mich interessiert Ihre aufrichtige Meinung. Natürlich müsste es mir dabei freistehen, Ihre Kritikpunkte, sofern sie mich nicht überzeugen, zu ignorieren. Aber die Hauptsache wäre, dass ich dank Ihrer gelegentlichen Rückmeldungen nicht ins Leere schreiben würde, und das ist sehr wichtig, wenn ich tatsächlich einen Roman in Angriff nehme. Diese Art [250] Händchenhalten wäre für Sie nicht allzu aufwendig. Nur ein Kaffee ab und zu. Der Gedanke, etwas Längeres zu schreiben, macht mich nervös, umso mehr, als man jetzt gewisse Erwartungen in mich setzt. Sie investieren in mich, und ich möchte mich würdig erweisen. Die Leute in der Stiftung, die mich ausgewählt haben, sollen stolz auf ihre Entscheidung sein können.
    Ich komme am nächsten Samstagmorgen nach London. Wir könnten uns um zehn in der National Portrait Gallery treffen, vor Severns Keats-Porträt. Keine Sorge, wenn ich nichts von Ihnen höre und Sie nicht da sind, werde ich keine voreiligen Schlüsse ziehen.
    Herzliche Grüße, Tom Haley

[251] 14
    Um fünf Uhr an diesem Samstag waren wir ein Liebespaar. Es lief nicht glatt, es gab keine erleichterte und verzückte Explosion, als Körper und Seelen einander begegneten. Keine Ekstase wie bei Sebastian und Monica, der diebischen Gattin. Jedenfalls nicht am Anfang. Wir waren verlegen und unbeholfen, irgendwie theatralisch, als seien wir uns der Erwartungen eines unsichtbaren Publikums bewusst. Und das Publikum war real. Als ich die Haustür von Nummer 70 öffnete und Tom hineinließ, standen meine drei Hausgenossinen mit Teetassen in der Hand unten an der Treppe und plauderten, eine kurze Pause, ehe sie wieder in ihre Zimmer gingen und den Rest des Nachmittags Jura büffelten. Ich warf die Haustür geräuschvoll ins Schloss. Tom blieb auf der Fußmatte stehen, und die Frauen aus dem Norden beäugten ihn mit unverhohlenem Interesse. Mir blieb nichts anderes übrig, ich musste ihnen meinen neuen Freund vorstellen, was sie mit vielsagendem Grinsen und gegenseitigem Anstupsen quittierten.

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