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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Wären wir fünf Minuten später gekommen, hätte uns niemand gesehen. Pech.
    Statt Tom unter ihren Blicken in mein Schlafzimmer zu lotsen, ging ich mit ihm in die Küche und wartete, dass sie sich zerstreuten. Aber sie blieben. Während ich Tee machte, [252] hörte ich sie im Flur miteinander flüstern. Ich hätte sie gern ignoriert und mich mit Tom unterhalten, doch mein Kopf war völlig leer. Tom, der mein Unbehagen spürte, füllte das Schweigen, indem er mir von Dickens’ Darstellung von Camden Town in Dombey und Sohn erzählte, von der Eisenbahnstrecke nördlich der Euston Station, dem kolossalen Keil, den irische Hilfsarbeiter mitten durch die ärmsten Wohnviertel getrieben hatten. Er konnte sogar ein paar Zeilen auswendig, und sie passten genau auf meinen verwirrten Zustand. »Hunderttausend unvollendete Formen und Substanzen, wild untereinandergemengt, das Unterste zuoberst gekehrt, bald in die Erde tauchend, bald in die Luft hinausstrebend oder im Wasser modernd, zeigten sich allenthalben wie die unverständlichen Bilder eines Traumes.«
    Endlich begaben sich meine Mitbewohnerinnen wieder an ihre Schreibtische, und wenig später stiegen wir mit unseren Teetassen die knarrende Treppe hinauf. Die Stille hinter den drei Türen, an denen wir auf dem Weg nach oben vorbeikamen, schien äußerst angespannt. Ich versuchte mich zu erinnern, ob mein Bett ebenfalls knarrte und wie dick die Wände meines Schlafzimmers waren – keine sehr erotischen Gedanken. Als Tom dann in meinem Lesesessel und ich auf dem Bett saß, schien es mir besser, das Gespräch erst einmal fortzusetzen.
    Zumindest darin hatten wir beide schon Übung. In der National Portrait Gallery waren wir etwa eine Stunde geblieben und hatten uns unsere Lieblingsbilder gezeigt. Meins war Cassandra Austens Skizze von ihrer Schwester, seins William Strangs Bildnis von Thomas Hardy. Mit einem Fremden Bilder anzuschauen ist eine unaufdringliche [253] Form gegenseitigen Kennenlernens und sanfter Verführung. Wir kamen zwanglos von ästhetischen auf biographische Fragen zu sprechen – auf das Leben der Porträtierten, natürlich, aber auch der Maler, sofern wir etwas über sie wussten. Und Tom wusste wesentlich mehr als ich. Im Grunde war das bloß Klatsch und Tratsch. Gewürzt mit ein wenig Imponiergehabe: das und das gefällt mir, so ein Mensch bin ich. Es verpflichtete zu nichts, wenn man sagte, dass Branwell Brontës Porträt seiner Schwestern alles andere als schmeichelhaft war oder dass Hardy zu behaupten pflegte, er werde oft für einen Detektiv gehalten. Irgendwann zwischen zwei Bildern hakten wir uns unter. Von wem das ausging, war nicht klar. Ich sagte: »Jetzt hat das Händchenhalten angefangen.« Er lachte. In diesem Augenblick, als wir uns bei der Hand nahmen, ahnten wir vermutlich schon beide, dass wir in meinem Zimmer landen würden.
    Er erwies sich als unkompliziert. Es drängte ihn nicht wie viele Männer bei einem Rendezvous (denn jetzt war es eins), einen bei jeder Gelegenheit zum Lachen zu bringen, oder auf irgendetwas hinzuweisen und sich in ernsten Monologen zu ergehen, oder einen mit höflichen Fragen zu bestürmen. Er war neugierig, er hörte zu, er erzählte und ließ sich erzählen. Im Hin und Her der Unterhaltung war er ganz entspannt. Wir waren wie Tennisspieler, die sich aufwärmten, wir standen jeder fest an seiner Grundlinie, schlugen schnelle, aber einfache Bälle auf die Vorhand unseres Gegners, stolz auf unsere zuvorkommende Präzision. Ja, meine Gedanken waren beim Tennis. Dabei hatte ich seit fast einem Jahr nicht mehr gespielt.
    [254] Wir gingen auf ein Sandwich ins Museumscafé, und hier hätte alles schon vorzeitig enden können. Die Unterhaltung hatte sich von der Malerei entfernt – mein Repertoire war sehr überschaubar –, und jetzt sprach er über Gedichte. Das war heikel. Ich hatte ihm erzählt, ich hätte Literatur studiert und mit guten Noten abgeschlossen, und jetzt wusste ich nicht einmal mehr, wann ich zuletzt ein Gedicht gelesen hatte. Ich kannte niemanden, der Gedichte las. Selbst in der Schule war mir das erspart geblieben. Wir hatten keine Gedichte »durchgenommen«. Romane, das schon, und ein paar Shakespeare-Stücke. Ich nickte aufmunternd, als er mir erzählte, was er gerade wiedergelesen hatte. Ich wusste, was jetzt kam, und versuchte mir eine Antwort zurechtzulegen, mit der Folge, dass ich ihm nicht richtig zuhörte. Wenn er fragte, sollte ich dann sagen: Shakespeare? In diesem Augenblick hätte ich

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