Honig
nicht ein einziges Gedicht von ihm nennen können. Gewiss, es gab ja auch noch Keats, Byron, Shelley, aber was hatten die geschrieben, das mir womöglich gefiel? Es gab moderne Dichter, die ich vom Namen her kannte, doch meine Nervosität blies mir wie ein Schneesturm alle Gedanken aus dem Kopf. Konnte ich die These vertreten, die Kurzgeschichte sei eigentlich auch eine Art Gedicht? Selbst wenn mir ein Dichter in den Sinn kam, müsste ich dazu ein entsprechendes Werk von ihm nennen. So sah es aus. Doch mir fiel beim besten Willen kein einziges Gedicht ein. Jedenfalls nicht in diesem Augenblick. Tom hatte etwas gefragt, er sah mich an, er wartete. Plötzlich ein Vers aus der Schulzeit, aus Casabianca von Felicia Hemans: The boy stood on the burning deck … Dann wiederholte er seine Frage.
[255] »Was hältst du von ihm?«
»Er ist nicht so direkt mein…« Ich brach ab. Mir blieben zwei Möglichkeiten – ich konnte als Schwindlerin entlarvt werden oder ein Geständnis ablegen. »Hör zu, ich muss dir etwas beichten. Das wollte ich dir sowieso irgendwann sagen. Also kann ich es auch gleich tun. Ich habe dich belogen. Ich habe keinen Abschluss in Englisch.«
»Du hast direkt nach der Schule angefangen zu arbeiten?« Er sagte das aufmunternd und bedachte mich mit jenem zugleich freundlichen und spöttischen Blick, den ich von unserer ersten Begegnung in Erinnerung hatte.
»Ich habe einen Abschluss in Mathematik.«
»Aus Cambridge? Mein Gott. Warum solltest du das verheimlichen wollen?«
»Ich dachte, dann würde dir meine Meinung zu deinen Texten weniger bedeuten. Das war dumm, ich weiß. Ich habe mich als die Person ausgegeben, die ich früher einmal werden wollte.«
»Und was war das für eine Person?«
Also erzählte ich ihm die ganze Geschichte von meiner obsessiven Schnellleserei, von meiner Mutter, die mir das Anglistik-Studium ausgeredet hatte, von meinem akademischen Elend in Cambridge. Ich sagte ihm auch, dass ich immer weitergelesen hatte und heute noch las. Dass ich hoffte, er könne mir verzeihen. Und dass ich seine Sachen wirklich gut fand.
»Ein Mathestudium ist doch viel anspruchsvoller. Du hast noch jahrzehntelang Zeit, Gedichte zu lesen. Wir können mit dem Dichter anfangen, von dem ich eben gesprochen habe.«
[256] »Ich habe seinen Namen schon wieder vergessen.«
»Edward Thomas. Und das Gedicht – richtig schön altmodisch. Nichts, was die Lyrik revolutioniert. Aber es ist reizend, eins der bekanntesten und beliebtesten in unserer Sprache. Wunderbar, dass du es nicht kennst. Du hast noch so viel vor dir!«
Wir hatten das Essen bereits bezahlt. Abrupt stand er auf, nahm meinen Arm und schob mich aus dem Gebäude und die Charing Cross Road entlang. Was eine Katastrophe hätte werden können, brachte uns näher zusammen, auch wenn das bedeutete, dass mein Begleiter jetzt wie ein typischer Mann auf mich einredete. Wir standen im Keller eines Antiquariats am St. Martin’s Court, und Tom hielt mir eine alte Hardcover-Ausgabe von Thomas’ Gedichten hin, schon an der richtigen Stelle aufgeschlagen.
Gehorsam las ich und blickte auf. »Sehr hübsch.«
»Das kannst du nicht in drei Sekunden gelesen haben. Noch mal langsam.«
Aber da war nicht viel. Vier Strophen zu je vier kurzen Versen. Ein Zug hält außerplanmäßig an einem kleinen Bahnhof, niemand steigt ein oder aus, jemand räuspert sich, ein Vogel singt, es ist heiß, es gibt Blumen und Bäume, Heu auf den Feldern und noch jede Menge andere Vögel. Das war’s.
Ich schloss das Buch und sagte: »Schön.«
Er neigte den Kopf und lächelte nachsichtig. »Du verstehst das nicht.«
»Doch, natürlich.«
»Dann sag’s mir.«
»Was denn?«
[257] »Woran du dich erinnern kannst, sag’s mir.«
Also zählte ich ihm alles auf, fast Zeile für Zeile, die Heuhaufen, die Wölkchen, die Weiden, das Mädesüß, Oxfordshire und Gloucestershire. Er schien beeindruckt und sah mich seltsam an, als habe er eine Entdeckung gemacht.
Er sagte: »Dein Gedächtnis funktioniert tadellos. Jetzt versuch dich aber an die Gefühle zu erinnern.«
Wir waren die einzigen Kunden im Keller des Ladens, Fenster gab es nicht, nur zwei nackte Glühbirnen. Dazu ein angenehm einschläfernder Staubgeruch, als hätten die Bücher den größten Teil der Luft verbraucht.
Ich sagte: »Ich bin mir ziemlich sicher, dass kein einziges Gefühl erwähnt wird.«
»Wie lautet das erste Wort des Gedichts?«
»Ja.«
»Gut.«
»Es beginnt mit: ›Ja, ich erinnere mich an
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