Honig
mir ja dann zeigen, dass es ohne Gedichte nicht geht.« Schon als ich das sagte, [263] ermahnte ich mich, dass der Zauber morgen schon vorbei sein konnte und ich darauf gefasst sein sollte.
Ich kannte die groben Umrisse seiner Familiengeschichte bereits aus den Unterlagen, die Max mir gegeben hatte. Tom war vom Schicksal recht gnädig bedacht worden, wenn man von Laura und einer unter Platzangst leidenden Mutter einmal absah. Wir waren beide als behütete Nachkriegskinder in wohlhabenden Familien aufgewachsen. Sein Vater war Architekt und arbeitete für die Stadtplanungsabteilung der Grafschaft Kent, demnächst würde er in Ruhestand gehen. Wie ich hatte Tom ein gutes Gymnasium besucht. Sevenoaks. Er hatte in Sussex und nicht Oxford oder Cambridge studiert, weil ihm der Lehrplan mehr zusagte (»konzentrierter, nicht so ausufernd«) und weil er eine Lebensphase erreicht hatte, wo es ihn reizte, Erwartungen zu unterlaufen. Ich glaubte ihm nicht recht, als er behauptete, dass er die Entscheidung nicht bereue. Seine Mutter hatte sich außer Haus als Klavierlehrerin betätigt, bis ihre zunehmende Angst, vor die Tür zu treten, sie dazu zwang, nur noch zu Hause Stunden zu geben. Ein kurzer Blick in den Himmel, schon der Anblick einer Wolke reichte, um sie an den Rand einer Panikattacke zu bringen. Niemand wusste sich zu erklären, was diese Agoraphobie ausgelöst hatte. Lauras Trinkerei fing erst später an. Toms Schwester Joan war vor ihrer Ehe mit dem Vikar Modezeichnerin gewesen – daher also die Schaufensterpuppe und Reverend Alfredus, dachte ich, sprach es aber nicht aus.
Seine Magisterarbeit, im Fach Internationale Beziehungen, hatte Tom über das Problem der Gerechtigkeit bei den Nürnberger Prozessen geschrieben, seine Dissertation über [264] The Faerie Queene. Edmund Spensers Dichtkunst war ihm heilig, er glaubte jedoch, ich sei noch nicht bereit dafür. Wir befanden uns inzwischen auf der Prince Albert Road, in Hörweite des Zoos. Er hatte seine Doktorarbeit im Sommer beendet und sie in einen festen Einband mit goldgeprägten Lettern binden lassen. Sie umfasste eine Danksagung, eine Zusammenfassung, Fußnoten, eine Bibliographie, ein Register und vierhundert Seiten minutiöser Erörterungen. Er war erleichtert und freute sich jetzt auf die relative Freiheit des Schreibens. Ich erzählte noch ein wenig von meiner Familie, und auf dem Parkway und dem oberen Stück der Camden Road verfielen wir in ein geselliges Schweigen, das zwischen zwei einander noch so Fremden schon ungewöhnlich war.
Ich dachte an mein klappriges Bett und ob es unser beider Gewicht aushalten würde. Aber eigentlich war es mir egal. Sollte es ruhig durch den Fußboden auf Tricias Schreibtisch krachen, immerhin läge ich mit Tom zusammen darin. Ich war in einer merkwürdigen Verfassung. Heftiges Verlangen, gemischt mit Traurigkeit und einem gedämpften Triumphgefühl. Die Traurigkeit kam daher, dass wir beinahe an meinem Büro vorbeigegangen waren, was mich an Tony erinnert hatte. Schon die ganze Woche hatte mich sein Tod wieder umgetrieben, diesmal freilich auf andere Weise. War er allein gewesen, den Kopf voller tosender Selbstrechtfertigungen bis zuletzt? Hatte er gewusst, was Lyalin unseren Leuten erzählt hatte? Vielleicht war jemand aus der fünften Etage nach Kumlinge hinausgefahren, um ihm im Tausch gegen alles, was er wusste, die Absolution zu erteilen. Oder jemand von der anderen Seite [265] war unangekündigt aufgetaucht und hatte ihm den Lenin-Orden ans Revers seiner alten Windjacke geheftet. Ich gab mir Mühe, ihn nicht noch posthum mit meinem Sarkasmus zu verfolgen, umsonst. Ich fühlte mich doppelt verraten. Er hätte mir von den zwei Männern erzählen können, die damals aus dem schwarzen Auto gestiegen waren, er hätte mir sagen können, dass er krank war. Ich hätte ihm geholfen, ich hätte alles getan, was er von mir verlangt hätte. Ich wäre zu ihm auf diese Ostseeinsel gezogen.
Mein kleiner Triumph war Tom. Ich hatte bekommen, was ich wollte, einen getippten Einzeiler von oben, in dem mir Peter Nutting für den »vierten Mann« dankte. Sein kleiner Scherz. Ich hatte den vierten Autor für Honig an Land gezogen. Ich sah kurz zu ihm rüber, wie er gertenschlank, mit weitausholenden Schritten, die Hände tief in seinen Jeanstaschen vergraben, neben mir herlief, den Blick zur Seite gewandt, vielleicht einer Idee nachsinnend. Schon da war ich stolz auf ihn, und auch ein wenig stolz auf mich selbst. Wenn er nicht wollte,
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