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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Adlestrop.‹«
    Er kam näher. »Die Erinnerung an einen Namen, an nichts anderes. Nur die Stille, die Schönheit, der ungeplante Halt, Vogelgesang über zwei Grafschaften hinweg, das Gefühl reiner Existenz, das Gefühl, in Raum und Zeit zu schweben, am Vorabend eines verheerenden Kriegs.«
    Ich hob den Blick, seine Lippen streiften meine. Ich sagte ganz leise: »In dem Gedicht wird kein Krieg erwähnt.«
    Er nahm mir das Buch aus der Hand, und wir küssten uns. Ich erinnerte mich an den ersten Kuss zwischen Neil Carder und seiner Schaufensterpuppe: Ihre Lippen waren hart und kalt vom lebenslangen Misstrauen gegen alles und jeden.
    [258] Ich ließ meine Lippen weich werden.
    Später gingen wir über den Trafalgar Square Richtung St. James’s Park. Dort schlenderten wir zwischen Kleinkindern umher, die über die Wege wackelten, Brot für die Enten in den kleinen Fäusten, und sprachen von unseren Schwestern. Seine, Laura, einst eine große Schönheit, war sieben Jahre älter als Tom, hatte Jura studiert und eine glänzende Zukunft vor sich gehabt, dann kamen der eine oder andere schwierige Fall, dazu der eine oder andere schwierige Ehemann, und nach und nach war sie zur Alkoholikerin geworden und verlor alles. Ihr Abstieg glich einem komplizierten Auf und Ab, sie probierte es mit Entziehungskuren, kehrte heroisch in den Gerichtssaal zurück, wurde vom Alkohol wieder nach unten gezogen. Nach etlichen unschönen Szenen war die Geduld der Familie erschöpft. Dann kam es auch noch zu einem Autounfall, bei dem das jüngste ihrer Kinder, ein fünfjähriges Mädchen, einen Fuß verlor. Laura hatte drei Kinder von zwei Vätern. Sie war durch jedes Sicherheitsnetz gefallen, das ein moderner liberaler Staat aufspannen konnte. Jetzt lebte sie in einem Wohnheim in Bristol, aber man drohte sie dort rauszuwerfen. Die Kinder wurden von ihren Vätern und Stiefmüttern versorgt. Es gab noch eine jüngere Schwester, Joan, die mit einem Vikar der anglikanischen Kirche verheiratet war und ebenfalls tatkräftig mithalf, und zwei- oder dreimal im Jahr fuhr Tom mit seinen zwei Nichten und dem Neffen in die Ferien.
    Auch seine Eltern kümmerten sich rührend um ihre Enkel. Aber Mr. und Mrs. Haley hatten zwanzig Jahre voller Schrecken, falscher Hoffnungen, Ratlosigkeit und [259] nächtlicher Notfälle hinter sich. Sie lebten in ständiger Angst vor Lauras nächstem Anruf, sie waren traurig, machten sich endlose Vorwürfe. So sehr sie Laura liebten, so sehr sie die Erinnerung an die junge Frau, die sie einmal gewesen war, mit silbergerahmten Fotos von ihrem zehnten Geburtstag, ihrer Examensfeier und ihrer ersten Hochzeit auf dem Kaminsims wachzuhalten versuchten, konnten auch sie nicht verleugnen, dass sie zu einer furchtbaren Person geworden war, furchtbar anzusehen, anzuhören und zu riechen. Furchtbar, sich an ihre kühle Intelligenz zu erinnern und sich dann ihr kriecherisches Selbstmitleid, ihre Lügen und sturzbetrunkenen Versprechungen anhören zu müssen. Die Familie hatte alles versucht, erst mit gutem Zureden, dann mit sanften und schließlich harten Vorwürfen, mit Kliniken und Therapien und verheißungsvollen neuen Medikamenten. Die Haleys hatten praktisch alles, was ihnen an Tränen und Zeit und Geld zur Verfügung stand, für sie hingegeben, und jetzt blieb ihnen nichts anderes mehr, als sich mit ihrer Liebe und ihren Mitteln auf die Kinder zu konzentrieren und abzuwarten, dass Laura in eine geschlossene Anstalt kam und starb.
    Bei einer so rasanten und steilen Talfahrt wie der von Laura konnte meine Schwester Lucy nicht mithalten. Sie hatte ihr Medizinstudium abgebrochen und lebte jetzt wieder in der Nähe unserer Eltern, auch wenn sie inzwischen, im Laufe einer Therapie, einen bitteren Groll auf unsere Mutter in sich entdeckt hatte, der auf die Abtreibung zurückging. In jeder Stadt gibt es einen Grundstock von Leuten, die sich entweder weigern oder es einfach nicht schaffen, in ihrem Leben den nächsten Schritt zu tun, und [260] manchmal sogar recht zufrieden damit sind. Lucy fand eine nette Gruppe alter Schulfreunde, die allzu bald von ihren Ausflügen ins Hippieleben oder ihren Kunstakademien oder Universitäten zurückgekehrt waren und sich als Außenseiter in ihrer behaglichen Heimatstadt niedergelassen hatten. Trotz all der Krisen waren das gute Jahre, wenn man nicht arbeiten wollte. Der Staat zahlte einem, ohne groß Fragen zu stellen, die Miete und gewährte Künstlern, arbeitslosen Schauspielern, Musikern,

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