Honig
Mystikern, Therapeuten und einem Kreis von Bürgern, für die der Konsum von Cannabis und das Reden darüber eine zeitaufwendige Beschäftigung, ja geradezu eine Berufung war, eine Grundrente. Dieses wöchentliche Almosen wurde als hart errungenes Recht grimmig verteidigt, obwohl alle, sogar Lucy, im Grunde ihres Herzens wussten, dass es ursprünglich nicht dazu gedacht gewesen war, der Mittelschicht ein Leben in Muße zu ermöglichen.
Jetzt, wo ich selbst ein kümmerliches Einkommen hatte und Steuern zahlte, sah ich meine Schwester noch skeptischer. Sie war gescheit, in der Schule ein Ass in Biologie und Chemie, sie war liebenswürdig, sie konnte gut mit Menschen umgehen. Ich wollte, dass sie Ärztin wurde. Ich wollte, dass sie wollte, was sie immer gewollt hatte. Sie lebte zusammen mit einer Jonglierlehrerin mietfrei in einem von der Gemeinde renovierten viktorianischen Reihenhaus. Sie meldete sich arbeitslos, rauchte Dope und stand jeden Samstagvormittag drei Stunden in einer Bude auf dem Markt und verkaufte regenbogenbunte Kerzen. Bei meinem letzten Besuch hatte sie von der neurotischen, leistungsorientierten »normalen« Welt gesprochen, die sie [261] hinter sich gelassen habe. Als ich andeutete, dies sei die Welt, die ihre arbeitsfreie Existenz finanziere, lachte sie und sagte: »Serena, du bist so was von rechts!«
Während ich Tom diese Geschichte in allen Einzelheiten erzählte, war mir vollkommen klar, dass auch er demnächst, und in größerem Stil, auf Staatskosten leben würde – finanziert aus dem Sonderbudget, jenem Teil der Regierungsausgaben, zu dem das Parlament keine Fragen stellen darf. Aber T. H. Haley würde hart dafür arbeiten und keine Regenbogenkerzen oder Batik-T-Shirts, sondern großartige Romane produzieren. Mir war, während wir unsere drei oder vier Runden im St. James’s Park drehten, ein wenig mulmig ob all der Informationen, die ich ihm verschwieg, doch beruhigte ich mich mit dem Gedanken, dass er unsere Tarnorganisation, die Stiftung, besucht und für gut befunden hatte. Niemand würde ihm sagen, was er zu denken oder zu schreiben hatte oder wie er leben sollte. Ich hatte dazu beigetragen, einem echten Künstler Freiheit zu verschaffen. Vielleicht hatten die großen Mäzene der Renaissance sich ähnlich gefühlt. Großzügig, über alle unmittelbaren weltlichen Interessen erhaben. Falls Ihnen das etwas übertrieben vorkommt, bedenken Sie, dass mein Rausch nach unserem ausgedehnten Kuss im Keller des Antiquariats noch nicht verflogen war. Ihm ging es nicht anders. Indem wir über unsere vom Glück weniger begünstigten Schwestern sprachen, priesen wir unbewusst unser eigenes Glück und versuchten, auf dem Teppich zu bleiben. Andernfalls hätten wir uns womöglich in die Lüfte erhoben und wären über die Horse Guards Parade und Whitehall und den Fluss entschwebt, besonders nachdem wir unter [262] einer Eiche, die ihr dürres rostfarbenes Laub noch nicht abschütteln wollte, stehen geblieben waren und er mich an den Stamm gedrückt und ein weiteres Mal geküsst hatte.
Diesmal schlang ich die Arme um ihn und fühlte unter seinen enggegürteten Jeans die schmale, kompakte Taille und seine harten Gesäßmuskeln. Mir war flau und übel, meine Kehle war wie ausgedörrt, als hätte ich mir eine Erkältung eingefangen. Ich wollte nur noch neben ihm liegen und ihm ins Gesicht schauen. Wir beschlossen, zu mir zu gehen, aber der Gedanke an öffentliche Verkehrsmittel schreckte uns, und ein Taxi konnten wir uns nicht leisten. Also gingen wir zu Fuß. Tom trug meine Bücher, den Band von Edward Thomas und sein anderes Geschenk, das Oxford Book of English Verse. Am Buckingham Palace vorbei zum Hyde Park Corner, die Park Lane hinunter, an der Straße vorbei, in der mein Büro lag – worauf ich nicht hinwies –, dann die endlose Edgware Road mit den neuen arabischen Restaurants hinauf, irgendwann nach rechts in die St. John’s Wood Road, vorbei am Lord’s Cricketstadion, schließlich am Regent’s Park entlang und nach Camden Town hinein. Es gibt weitaus kürzere Wege, aber das störte uns nicht. Wir wussten, worauf wir uns zubewegten. Nicht daran zu denken machte das Gehen wesentlich einfacher.
Wie unter frisch Verliebten üblich, sprachen wir von unseren Familien, erklärten uns gegenseitig unseren Platz in der Welt und verglichen, wie gut es das Schicksal mit uns gemeint hatte. Einmal sagte Tom, er verstehe gar nicht, wie ich ohne Gedichte leben könne.
Ich sagte: »Na, du kannst
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