Honigmilch
Waldhaus ein. Im Ort stellte er den Wagen auf dem ausgewiesenen Wanderparkplatz ab.
Zu Fuß folgten Fanni und Sprudel der stilisierten Ameise, die einen der Wege auf den Falkenstein markierte.
»Ich hatte heute Vormittag Gelegenheit, Severins Vernehmungsprotokoll zu lesen«, sagte Sprudel.
Fanni sah ihn gespannt an.
»Severin kann für die Tatzeit mit einem Alibi aufwarten.«
»Aber damit ist er ja aus dem Schneider!«, rief Fanni.
»Nicht ganz«, entgegnete Sprudel, »das Alibi zeigt so seine Tücken.«
Und dann begann er zu erklären: »Severin behauptet, er sei am Sonntag gegen halb elf wieder in seinen Wagen gestiegen, die Forststraße Richtung Zwiesler Waldhaus hinuntergefahren und von dort gleich weiter nach Ludwigsthal, wo er bei seinen Eltern wohnt. Zu Hause angekommen, habe er sofort seinen Computer eingeschaltet, und sich bei World of Warcraft als Magier Azrael eingeloggt.«
Fanni kannte World of Warcraft. Bei Lenis Zwillingsbruder Leo flimmerten die Krieger, Druiden und Piraten dieser virtuellen Welt ständig über den Computerbildschirm. Einunddreißig Jahre alt, mit zwei Universitätsdiplomen in der Tasche, war Leo süchtig nach World of Warcraft. Er verwirklichte sich in der Rolle des Druiden Orahwak.
»Da könnte Severin aber ein schlechteres Alibi haben«, meinte Fanni. »Es lässt sich doch bestimmt nachweisen, wann er bei dem Spiel eingeloggt war.«
»Sicher«, gab ihr Sprudel recht. »Aber wer sagt denn, dass am Sonntagmittag nicht ein anderer Severins Rolle als Azrael übernommen hat.«
Fanni schnaubte, und Sprudel unterdrückte ein Schmunzeln. »Erstens«, erklärte Fanni, »kann nicht jeder Beliebige als Severins Azrael in World of Warcraft auftreten. Den Mitspielern würde es auffallen, wenn die Figur plötzlich langsamer oder ungeschickter agieren würde als sonst. Die Krieger, Druiden, Magier und Priester einer Spielergruppierung kennen sich nämlich untereinander besser, als du den Inhalt deiner Besteckschublade kennst.«
Sprudel grinste und sagte: »Zweitens?«
»Wie zweitens? Ach, zweitens. Zweitens würde es bedeuten, dass Severin von langer Hand geplant hat, seine Freundin am Sonntagmittag auf dem Falkensteingipfel zu erschlagen. Glaubst du das wirklich? Meinst du nicht, er hätte sich dafür ein abgelegeneres Plätzchen ausgesucht und einen günstigeren Zeitpunkt? Die Gefahr, gesehen zu werden, war doch enorm.«
Sprudel nickte. »Nein, ich glaube es nicht. Aber Severin ist bis jetzt der einzige Verdächtige zwischen Arber und Rachel. Die SoKo nimmt deshalb sein Alibi ganz genau unter die Lupe.«
»Sicher mit Recht«, gab Fanni zu. »Aber gerade, weil dieses Alibi so seine Schwachstellen hat, klingt es für mich überzeugend. Und deshalb würde ich es für eine gute Idee halten, die Angelschnur nach anderen Verdächtigen auszuwerfen.«
»Und wo?«, fragte Sprudel. »In der Glasfachschule? In Ludwigsthal? Am Finkenschlag in Zwiesel, wo Annabel wohnte?«
»In der Schutzhütte am Falkenstein«, schlug Fanni vor, »am Stammtisch, dort wo all diejenigen sitzen, mit denen Annabel ihre Wochenenden geteilt hat.«
Sprudel seufzte. »Dann fangen wir halt da an.«
»Gut«, sagte Fanni zufrieden. Plötzlich blieb sie stehen. »Seltsam«, murmelte sie.
Sprudel wartete.
»Neulich habe ich einen Abend in Gesellschaft einiger Eisensteiner Schützen verbracht«, erzählte Fanni. »Ein paar von ihnen schienen Severin recht gut zu kennen.«
Hörbar fiel bei Sprudel ein fehlendes Puzzleteil an seinen Platz. Daher kamen also die Informationen über Annabel und ihren Freund, die Fanni letzthin aus dem Hut gezaubert hatte.
»Einer der Schützen erwähnte«, sprach Fanni indessen weiter, »Severin habe ihm erzählt, dass er am Computer Geld verdienen würde.« Sie runzelte die Stirn. »Mit World of Warcraft spielen?«
Sprudel nahm Fanni an der Hand und setzte den Weg fort. »Ein Spezialist der Kripo ist bereits dabei, Severins Dateien zu durchforsten. Er wird die Antwort darauf finden.«
An der Höllbachschwelle schnaufte Sprudel »Trinkpause«, wand sich aus den Rucksackträgern und angelte nach der Wasserflasche.
»Ich wusste gar nicht«, meinte er, »dass hier ein ausgewachsener See liegt.«
Fanni nickte. »Die Schwelle«, sagte sie. Und weil Sprudel so verwirrt dreinschaute, fuhr sie fort: »Um 1860 herum haben die Waldbauern hier eine Steinmauer gebaut, um den Höllbach aufzustauen. Wir stehen darauf.«
Sprudel sah seine Füße an. Sie befanden sich auf dem Weg, der am Ufer
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