Honigmilch
hinaufgearbeitet hat. In dieser Rinne wird wohl auch Irina hinuntergeschlittert sein. Aber leider hat der Ranger einen Tag später ihre Fußstapfen eingeebnet.«
»Also gibt es keine einzige Spur, die der Unfalltheorie widersprechen könnte.« Fanni starrte mürrisch ins gurgelnde Nass des Höllbachs.
»Trotzdem«, soufflierte Sprudel.
Fannis Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln. »Trotzdem«, wiederholte sie betont und fuhr nach einer kleinen Pause fort: »Die Fakten sprechen ganz klar für einen Unfall. Durch welche Dummheit auch immer, Irina hat ihren Tod selbst verschuldet, und damit schließen wir ihre Akte – zu Recht und mit gutem Gewissen. Und warum komme ich mir trotzdem an der Nase herumgeführt vor?«
Sprudel seufzte und machte einen großen Schritt zum nächsten Trittstein, um endlich ans andere Ufer zu gelangen. Vom letzten Stein unter der Uferböschung rutschte er ab und platschte mit dem Schuh ins Wasser. Fanni hörte ein leises Schmatzen, als er den Fuß wieder herauszog.
Irina muss gewusst haben, dachte sie, dass der Baumstamm nicht den geringsten Halt bietet. Schließlich ist sie in Bergreichenstein aufgewachsen. Und dieser Ort liegt direkt am Sumava, dem tschechischen Nationalpark, der den bayerischen fortsetzt. Irina hatte ihre Arbeitsstelle mitten im Kerngebiet der geschützten Naturparkzone. Sie kannte die Tücken von Bergbächen, von Waldpfaden und von Felsgestein. Was hat sie in den Höllbach getrieben?
Jonas Böckl, der Schürzenjäger? Er war doch hinter Irina her!
Aber wohl kaum, um sie zu erlegen.
Fanni stiefelte Sprudel nach, der nun, voll auf seinen Weg konzentriert, jeden Schritt bedachtsam setzte. Auch Fanni musste bei jedem Tritt acht geben. Der schlüpfrige Pfad führte unter einer Felswand entlang, die schwefelgelb und moosgrün gefleckt auf sie herunterblickte.
Es liegt an der Feuchtigkeit, dachte Fanni. Vom Bach wehen ständig wassergetränkte Luftschwaden herüber. Felswände und Bäume lassen keinen einzigen Sonnenstrahl durch, sodass kein bisschen von der Nässe verdampfen kann. Es muss wohl eine Art Schimmelpilz sein, der hier alles mit seinem Schleim überzieht.
Fanni spürte ein Frösteln, obwohl der Tag schön war und warm für September. Plötzlich überkam sie eine Ahnung davon, was ein Mensch empfinden musste, der bei Nebel oder Regen diese Klamm passierte. Furcht, überlegte sie und begann, sich die Szene auszumalen:
Wenn ich, sinnierte Fanni, ganz allein bei trübem, nasskaltem Wetter, womöglich auch noch in der Dämmerung, hier durchmüsste, dann wär mir bange. Wie leicht könnte ich von einem der Trittsteine abrutschen, mir das Bein brechen, und niemand würde mich finden. Ich müsste die ganze Nacht hier liegen, vielleicht auch noch den folgenden Tag über und die nächste Nacht, wenn das Wetter schlecht bliebe und kein Wanderer die Route durchs Höllbachgspreng nehmen wollte. Darüber hinaus, sagte sich Fanni, wäre mir auch aus ganz irrationalen Gründen bange. Denn das hier ist ein Ort, an dem man sich vor Geistern, Dämonen und allen möglichen Unwesen fürchten kann. Orks kamen Fanni in den Sinn, Vampire, menschenfressende Bäume, bestialische Riesenkäfer.
Sie schüttelte die Phantasien ab und fragte sich nachdenklich, ob Irina Svetla Angst gehabt hatte. Das Mädchen, überlegte Fanni, war mit den Wegen und Stegen vertraut, sie kannte sich aus, und sie lebte vermutlich in einer viel innigeren Beziehung zur Natur, als ich es tue. Irina hatte wahrscheinlich keine Angst – außer, ja, außer irgendetwas hat sie furchtbar erschreckt. Wenn Irina in Panik geraten wäre, könnte es dann sein, dass sie kopflos vom Wanderpfad weg und in die Wildnis gerannt wäre? Was konnte sie so erschrecken?
Eine Treibjagd auf Hasen, angeführt von Jonas Böckl?
Fanni zuckte zusammen. Hatte sich ein Teil ihrer Gedanken bereits mit Hans-Rot- und Bergwacht-Rudi-Sprüchen infiziert?
Sie bogen um die äußerste Kante der Felswand, und fast sofort wirkte das Terrain trockener. Jetzt stieg der Weg steil bergan. Trittsteine bildeten eine gewundene Treppe. Heftiges Atmen blies die Grübeleien über Irina Svetlas Tod aus Fannis Kopf.
Gut zwanzig Minuten später erreichten sie den Bergrücken, der sie im Verlauf der nächsten Stunde zum Gipfel des Falkenstein führen sollte. Der Wanderweg verbreitete sich und verlief nur noch sanft aufwärts. Sprudel blieb stehen, um durchzuatmen.
Als er weiterging, hielt sich Fanni an seiner Seite. »Ein Nationalparkranger hat Irina
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