Honigmilch
Unfall?«, fragte Leni.
»Ich will den Autopsiebericht nicht anzweifeln«, erwiderte Fanni. »Aber ich sehe es doch ganz genau: Dir ist auch gleich der Gedanke gekommen, dass man vom Wanderweg nicht einfach in den Bach fallen kann. Irina muss also ein Stück hineingewatet und dann gestürzt sein. Aber warum nur?«
Leni dachte eine Zeit lang darüber nach. Dann sagte sie: »Irgendjemand hat sie gejagt.«
»Hat sie mitten in den Höllbach gejagt«, bekräftigte Fanni.
»Was meint denn Sprudel dazu?«, fragte Leni.
»Er akzeptiert bisher die schlichte Unfalltheorie«, antwortete Fanni. »Und bevor ich die Stelle, an der Irina ertrunken ist, nicht selbst gesehen habe, will ich ihm nicht mit Spekulationen kommen. Sprudel hat schon genug damit zu tun, seinen Freund Hofer im Fall Annabel zu unterstützen.«
Leni nahm sich eine zweite Portion Nudeln.
Und jetzt würdest du gern wissen, Fanni Rot, was Leni mit Jonas Böckl über dessen Liebschaften zu reden hat!
Sie wird es mir schon noch erzählen.
Und inzwischen machst du dir Sorgen, dass Jonas deine Leni in seine Jagdtrophäen einreihen könnte. Jonas, der Schürzenjäger, hat er möglicherweise Irina Svetla …?
Ich vertraue Leni.
Es war so etwas wie ein Spiel zwischen Fanni und ihrer ältesten Tochter. Ein Verlässlichkeitsspiel. Leni gab manchmal nur Bruchstücke aus ihrem Leben preis und setzte auf Fannis Vertrauen. Und Fanni hatte sie noch nie enttäuscht. Das und der liebevoll-spöttische Ton, in dem sie gern miteinander umgingen, hatte sie zu Freundinnen gemacht – zu wirklichen Freundinnen.
Aber manchmal treibt es Leni ein wenig zu weit!
»Was weißt du denn nun über Syphilis, Miss Wikipedia?«, fragte Fanni und fügte hinzu: »Herauszukriegen, wie die keusche Irina zu dieser Infektion kam, könnte etwas Licht in die Sache bringen.«
»Der Erreger ist ein Bakterium«, begann Leni, »durch Penicillin leicht auszuschalten, seit der Grenzöffnung nach Osten allerdings wieder im Vormarsch begriffen …« Sie unterbrach sich, weil Hans Rot hereinkam.
»Plauderstündchen bei Pasta asciutta?«, fragte er und fuhr ohne Atem zu holen fort: »Fannilein, du hast ja meine Tasche noch gar nicht gepackt.«
Fanni glotzte ihn verständnislos an.
»Hast du es etwa vergessen?«, fragte Hans Rot vorwurfsvoll.
Fanni glotzte noch immer, und deshalb sprach er weiter: »Was für ein Wochenende steht denn bevor, hm?«
Fanni regte sich nicht.
»Das letzte Septemberwochenende, Fannilein. Und was mache ich da jedes Jahr?«
In Fanni kam Leben.
»Sehr richtig«, lobte ihr Mann. »An diesem Wochenende findet seit 1983 der Herbstausflug der Kegelbrüder statt – ohne Schwestern«, fügte er grinsend hinzu.
Fanni sprang auf. Ihr Mann würde für zweieinhalb Tage verreisen, und sie hatte gar nicht daran gedacht. Sie raste ins Schlafzimmer. Für ein Wochenende mit Sprudel hätte sie sämtlichen Kegelbrüdern im Landkreis die Reisetaschen gepackt.
5
»Ich komme«, sagte Fanni am Freitagmittag in den Telefonhörer. »Ja, wir können zur Falkensteiner Schutzhütte wandern.«
Sie horchte einen Moment und antwortete dann: »Ich kann mir denken, dass freitags am Stammtisch in der Hütte erst gegen Abend richtig was los ist. Das macht nichts.«
Sie wedelte ungeduldig mit der Hand, weil Sprudel so lang redete, und schnitt ihm dann plötzlich das Wort ab: »Der Hüttenwirt bietet doch Schlaflager an. Wir bleiben über Nacht.«
Als sie auflegte, stand Leni neben ihr.
»Ha«, rief sie, »Rabenmutter, setzt sich auf den Falkenstein ab und lässt ihr Kind im Stich.«
Fanni bot ihr an, eine Tagesmutter für sie ausfindig zu machen.
»Deine Einsicht kommt zu spät«, klagte Leni. »Ich fahre übers Wochenende ins Labor zu meinen Mikroorganismen. Die mögen mich wenigstens.«
Sie umarmte ihre Mutter. »Ich muss ein paar Versuche abschließen. Sonntag bin ich wieder da.«
»Wir wandern durchs Höllbachgspreng hinauf«, bestimmte Fanni, nachdem sie vor dem Zwiesler Gymnasium in Sprudels Leihwagen umgestiegen war. »Kennst du die Fundstelle?«
Sprudel nickte. »Hofer hat sie mir gezeigt.«
Er bog in die Straße ein, die nach Eisenstein führte, und grinste zufrieden vor sich hin, denn Fanni hatte ihm soeben gesagt, dass sie bis Sonntag freihabe – durchgehend.
Gemächlich steuerte er durch Ludwigsthal und ließ eine Gruppe von Fußgängern passieren, die aus der Glasbläserei kamen. Wenig später setzte er den Blinker und bog rechts auf das Sträßchen nach Zwiesler
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