Honigmilch
des Sees entlangführte. Sprudel drehte sich um, querte den Weg, und jetzt sah er den Abbruch. Eine Wand aus Felsgestein wuchs aus einem Bachbett, in dem aber nur das kleine Rinnsal floss, das die Schwelle ausspuckte.
»Die Höllbachschwelle«, trug Fanni vor, »gehörte zu einem Triftsystem für Baumstämme, die an den Hängen von Falkenstein und Arber geschlagen wurden. Hier am Falkenstein kamen die Stämme mit dem Höllbach herunter, sammelten sich in diesem Stausee und flutschten, sobald die Schwelle geöffnet wurde, weiter und weiter bis in den Großen Regen. Die Bloche vom Arber dagegen schwammen im Schmalzbach herunter und sammelten sich in der Schmalzbachschwelle, die man heutzutage als Schwellhäusl kennt und die tagaus, tagein von Touristen überrannt wird. Das Flüsschen Deffernik spülte die Arberbloche in den Regen.«
»Du bist ja ein Ass in Heimatkunde«, staunte Sprudel.
Fanni winkte ab und deutete auf eine Informationstafel am Wegrand.
Ich bin eine Niete in Heimatkunde, dachte sie. Wenn mir der Text auf dieser Tafel nicht ins Auge gefallen wäre, würde ich die Höllbachschwelle noch immer für den geschmolzenen Rest eines eiszeitlichen Gletschers halten.
Objektiv betrachtet war Fanni weder ein Ass noch eine Niete. Sie wusste über dies und das Bescheid, weil sie eine Menge Zeit mit Lesen verbrachte – vertat, wie ihr Mann sagte.
Sprudel schulterte seinen Rucksack wieder und folgte dem Weg auf der Mauerkrone, der nach wenigen Schritten in einen natürlichen Pfad längs des Ufers überging. Fanni blickte zur Höllbachhütte am Waldrand hinüber.
»Die Trifter haben das Häuschen gebaut«, sagte sie zu Sprudel. »Sie konnten schließlich nicht jeden Morgen von Ludwigsthal oder gar von Zwiesel hierherlaufen. Nachdem die Holztrift aus der Mode gekommen war, hat man es bis gut in die Sechziger als Jagdhütte benutzt. Dann begann die Hütte zu verfallen, weil inzwischen die Wälder kreuz und quer mit Forstwegen durchzogen waren, die man mit ganz normalen Autos befahren konnte. Kein Jäger, kein Förster, kein Holzfäller musste mehr die Nacht im Wald verbringen.«
»Sieht aber gar nicht verfallen aus«, warf Sprudel ein.
»Der Waldverein hat die Hütte vom Staatsforst gepachtet und renoviert«, antwortete Fanni. »Seitdem sind die Übernachtungszahlen wieder gestiegen, weil die Unterkunft am Hauptwanderweg Ostsee – Wachau – Adria liegt.«
Sie ließen die Hütte rechts liegen und bogen in den Wanderweg ein, der am Höllbach entlang felsig und steil bergan führte. Nach einer halben Stunde erreichten sie die Stelle, an der der Weg den Höllbach querte. Ein paar Steintritte erleichterten den Übergang. Mitten im Bach blieb Sprudel stehen und zeigte flussabwärts.
»Siehst du den Baumstamm, der dort quer über den Felsen liegt?«, sagte er zu Fanni. »In dem Teich, der sich zwischen den zwei großen Steinen davor gebildet hat, ist Irina Svetla ertrunken, nachdem sie mit der Schläfe auf einem der Steine aufgeschlagen war.«
Fanni starrte die Stelle an. »Warum, in Gottes Namen«, fragte sie, »hätte sie da unten den Bach überqueren sollen? Schau doch, Sprudel, die Ufer fallen steil ab, sind schlüpfrig und mit allem möglichen Zeug bewachsen. Schon der Abstieg bis zum Bachbett sieht gelinde gesagt unwegsam aus, und eine Querung scheint mir hier ganz unmöglich. Der Baumstamm da riegelt das flachere Terrain ab, und dahinter rauscht das Wasser wie verrückt zu Tal. Hier quert niemand, der noch alle fünf Sinne beieinander hat.«
Sprudel schaute und nickte, und dann sagte er: »Der Nationalparkranger, der mich hierhergeführt hat, meint, dass Irina vielleicht aus lauter Übermut auf dem Baumstamm über den Bach balancieren wollte und dabei abgerutscht ist.«
Fanni schüttelte den Kopf. »Niemals! Sieh dir den Stamm doch an. Kein bisschen Rinde mehr dran. Das Holz hat sich mit Feuchtigkeit vollgesogen. Schon beim ersten Schritt müsste Irina ausgerutscht sein und gemerkt haben, dass sie über den Baumstamm nie ans andere Ufer kommt.«
Sprudel stimmte ihr zu, meinte aber: »Du hast ja recht, Fanni. Das Fatale ist nur, es gibt nicht den geringsten Hinweis auf Fremdverschulden.«
»Und auf der Uferböschung hat die Kripo nur Irinas Fußspuren gefunden, die ins Wasser führen?«, fragte Fanni.
»Der Ranger, der Irinas Leiche entdeckt hat«, antwortete Sprudel, »hat die Kripo zu einer glitschigen, zertrampelten Rinne geführt, die er als Abstieg zum Bach benutzte und die er sich dann wieder
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