Honigmilch
erzählt, um von etwas Wichtigerem abzulenken?
Von zwei toten Mädchen mit Krankheitserregern im Blut?
Aber der Doc kommt als Schuldiger an Annabels Genickbruch nicht infrage. Niemand schafft den Anstieg auf den Falkenstein zu Fuß …
ZU FUSS!
Fanni schnappte nach Luft. Er könnte gefahren sein.
Er ist gefahren! Mit Rudi!
Ja, so war es. Plötzlich erinnerte sich Fanni.
An dem Abend, als sie mit den Bergwächtern, den Zöllnern, dem Doc, Max und Sprudel am Stammtisch in der Schutzhütte saß, hatte Rudi gesagt: »Am vergangenen Sonntag hätten wir beinah einen Wolpertinger überfahren, gell, Doc?«
Aber warum wusste keiner davon?
Weil Rudi nicht extra erwähnte, dass er den Doc mittags irgendwo auf der Strecke aufgelesen und mit nach oben genommen hat!
Und Sepp? Die beiden waren doch angeblich die ganze Zeit zusammen. Sepp hätte zu Protokoll geben müssen, dass Rudi mit dem Geländewagen unterwegs war.
Hätte er? Er wurde ja nur hinsichtlich der Tatzeit befragt, und die lag zwischen eins und zwei.
Fanni kniff die Augen zu und versuchte, die Mittagsstunden des Sonntags wie einen Film ablaufen zu lassen:
Die Bergwächter sitzen auf der Hütte, es ist elf oder halb zwölf. Aus irgendeinem Grund beschließt Rudi, mit dem Geländewagen noch mal ins Tal zu fahren.
Sie brauchen Nachschub!
An Verbandsmaterial.
An Bier!
Rudi steigt ein, fährt hinunter, erledigt seinen Auftrag.
Inzwischen ist der Doc auf dem Parkplatz angekommen und losmarschiert.
Rudi sieht ihn gehen und nimmt ihn mit.
Es ist kurz vor halb eins.
Etwas nach Viertel vor eins erreichen sie die Dienststelle bei der Hütte. Der Doc steigt aus.
Und jetzt hat er noch fast eine Stunde Zeit, mit Annabel zu streiten und sie gegen den Stein zu stoßen!
Nette Theorie, Miss Marple! Wer soll sie beweisen?
13
Noch vor dem Frühstück wählte Sprudel Doc Hallers Handynummer und fragte, ob er ihn ein letztes Mal beim Pflanzensammeln begleiten dürfe. Der Doc sagte zu und verabredete sich mit Sprudel für zehn Uhr in Zwiesler Waldhaus.
Auf dem Weg dorthin machte Sprudel in Ludwigsthal Halt und setzte Fanni ab.
»Du musst die Straße vor dem Ludwigsthaler Glaskunsthaus bis ganz zum Ende hinuntergehen«, sagte er, als sie ausstieg. »Rechts am Waldrand findest du Doc Hallers Häuschen. Er hat mir den Weg einmal so beschrieben.«
Fanni nickte ihm ein »Bis später« zu und schloss die Wagentür. Sprudel ließ das Fenster herunter und rief: »Du musst bei Haller klingeln, Dr. Theo Haller.«
Fanni schnitt ihm eine Grimasse und machte sich auf den Weg.
Frau Haller öffnete weder beim zweiten noch beim dritten Läuten, und Fanni beschloss, sich ein wenig umzusehen. Vielleicht kehrte Frau Haller ja inzwischen zurück.
Links von der Haustür befanden sich zwei mit Stores verhangene Fenster, unter denen jeweils ein schier zugewachsener Kellerschacht lag. Einer verschwand fast völlig im Efeugeranke.
Ans Hauseck schloss sich ein Gartenzaun an. Fanni ging hinüber und entdeckte, dass er einen Kräutergarten begrenzte. Am Zaun entlang führte eine Steintreppe zur Straße hinunter. Dieser Weg war kürzer als der über die Garagenzufahrt, auf dem Fanni gekommen war, aber er sah wenig einladend aus. Unkraut wucherte aus allen Ritzen, und die Zweige einer Birke hingen so weit herab, dass man sich tief hätte bücken müssen, um darunter durchzuschlüpfen.
Das gesamte Anwesen wirkte nicht besonders gepflegt. Nur der Kräutergarten stach heraus. Er hätte in der Zeitschrift »Gartenfreund« abgebildet sein können.
Fanni klingelte ein viertes Mal erfolglos, dann gab sie auf.
Enttäuscht stiefelte sie den Weg in Richtung Ortsmitte bis zum Ludwigsthaler Glaskunsthaus zurück. Dort blieb sie stehen, weil es noch viel zu früh war, um sich in dem mit Sprudel verabredeten Dorfwirtshaus einzufinden, und sah sich die Objekte im Schaufenster an. Mitten in einer Gruppe bizarr geformter Vasen entdeckte sie zwei, an denen ein Schild mit der Aufschrift »Gravur: Annabel Scheichenzuber« hing.
Eine der Vasen gefiel Fanni ausnehmend gut. Um ihre Kegelform rankten sich stilisierte Blätter aufwärts, vereinigten sich hier und dort, trennten sich wieder und liefen in Spiralen aus.
Annabel, dachte Fanni, war ein hübsches junges Mädchen, geschickt, begabt, tüchtig – und tot. Severin, ihr Freund, ist ein hübscher junger Mann, geschickt, begabt, tüchtig – und vermutlich ihr Mörder.
Falls es nicht doch ein anderer war!
Fanni seufzte, starrte die Vase an,
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