Honigmilch
die Annabel so kunstvoll verziert hatte, seufzte wieder und fragte sich, was sie nun machen sollte. Sprudel würde erst in zwei Stunden von seiner Exkursion mit dem Doc zurückkehren.
Du könntest da hineingehen , flüsterten ein paar unbeschwerte Gedanken in ihrem Kopf. Könntest dir Glasobjekte ansehen, dies und jenes kaufen – Annabels Vase vielleicht, als Erinnerung.
Fanni wandte sich ab.
Du könntest auf dem Wanderweg zu dem kleinen Ort Kreuzstraßl laufen und wieder zurück. In eineinhalb Stunden ist das leicht zu schaffen , meldeten sich die Gesundheitsapostel in Fannis Hirn.
Sie hörte nicht auf sie.
Ein leises Wispern im Hinterkopf gewann ihre Sympathie: Es kann doch nicht schaden, sich ein wenig im Kräutergarten von Doc Haller und seiner Frau umzutun – bloß mal nachschauen, was sie so anpflanzen.
Bevor ihre Vernunft Argument für Argument dagegenhalten konnte, setzte Fanni sich wieder Richtung Ortsrand in Bewegung.
Sie mied die Zufahrt und stieg vorsichtig über die Steintreppe am Rand des Kräutergärtchens hinauf, würdigte die Gewächse jedoch keines Blickes. Sie hatte schon zuvor Schnittlauch, Petersilie, Salbei, Dill und ein halbes Dutzend weiterer Küchenkräuter identifiziert. Sie hatte das Schöllkraut erkannt, den Frauenmantel, das Hirtentäschel. Die Namen der anderen Kräuter konnte sie ohnehin nur raten.
»Cannabis-, Hanf- und Cocapflanzen sind aber wohl nicht darunter«, murmelte sie und bog ums Hauseck.
Schon von vorne wirkte Doc Hallers Anwesen wenig ansprechend, hinten sah es geradezu schlampig aus.
Ein halb verfallener Schuppen war gegen die rückwärtige Mauer gesackt. An seinen zersplitterten Brettern, die er hilfesuchend ausstreckte, lehnten abgenutzte Gartengeräte. Neben dem Schuppen lag ein Haufen Brennholz, darüber klapperte ein schmaler Fensterflügel im Wind.
Das Toilettenfenster, dachte Fanni.
Sie bezog vor dem Holzhaufen Position und begutachtete den Durchschlupf.
Doc Haller und seine Frau müssen sich keine Sorgen machen, dass hier jemand ins Haus eindringt, dachte sie. Wer könnte sich denn da schon durchzwängen, ein Kind allenfalls. Jeder Erwachsene würde stecken bleiben.
Jeder – außer Fanni! Hat die Dame nicht ihre Wanderhose in der Kinderabteilung von Sport Scheck gekauft? Aber Fanni Rot sollte nicht mal dran denken, durch dieses Fenster zu steigen, das wäre nämlich Hausfriedensbruch!
Fanni winkte ungehalten ab. »Carpe diem!«, verkündete sie und beäugte den Holzhaufen. Sie würde auf diese losen Scheiter klettern müssen, um das Fenster zu erreichen.
Halsbrecherisch!
Schnauze!
Fanni klammerte sich am Fallrohr der Dachrinne fest und setzte den Fuß auf einen dicken Prügel. Er hielt. Langsam hangelte sich Fanni aufwärts. Als sie das Rohr losließ, ihr Gewicht verlagerte und mit beiden Händen das Fensterbrett packte, knackte es bedenklich unter ihren Füßen. Sie verharrte ganz still, musste ohnehin verschnaufen.
Durch das Fenster, das sich nun in Höhe ihres Brustbeins befand, schaute Fanni auf eine geschlossene Tür. Sie beugte sich vorsichtig in den Raum hinein und sah ein Waschbecken aus der Wand ragen, daneben stand die Toilette mit offenem Deckel.
Salto vorwärts in die Kloschüssel?
Fanni kaute auf ihrer Unterlippe. Ich müsste, dachte sie, meine beiden Füße aufs Fensterbrett stellen. Dann könnte ich mich mit den Beinen voran auf der anderen Seite hinunterlassen, mich am Waschbecken ein bisschen abstützen und auf den Boden springen.
Aussichtslos!
Hm, stimmt! Es ist unmöglich, auch nur einen Fuß hinaufzubekommen, geschweige denn beide. Aber wie wär’s mit dem Hintern?
Sie drehte sich behutsam um, stemmte sich hoch und kam auf dem Fensterbrett zu sitzen.
Da saß sie nun.
Salto rückwärts in die Kloschüssel?
Fanni schob ihren Oberkörper durch das Fenster und blickte dabei nach oben, um sich den Kopf nicht am Fenstersturz zu stoßen. Ein Stück Wand kam in Sicht und dann eine Rohrleitung. Sie verlief waagerecht oberhalb des Fensters und schien fest im Putz verankert.
Doc Hallers Haus ist eine Bruchbude. Du wirst samt Wasserleitung und Ziegelschutt auf die Bodenfliesen stürzen.
Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!
Sie klammerte sich an das dünne Rohr und schob den Hintern in den Raum. Die Beine folgten ordnungsgemäß, und als die Füße das Fensterbrett erreichten, hingen neun Zehntel von Fannis Gewicht an der Wasserleitung. Putzbröckchen klimperten ins Waschbecken. Fanni zog ihre Füße ganz ins Innere, setzte
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