Honigmilch
sie auf den Mauervorsprung unter der Fensteröffnung und ging in die Hocke. Die Halteklammern der Leitung ächzten. Fanni begann zu bereuen.
Zu spät!
Sie biss die Zähne zusammen und löste vorsichtig eine Hand vom Rohr. Dann senkte sie den Arm, schob ihn durchs Fenster hinaus und umklammerte die Kante des äußeren Fensterbretts. Die andere Hand folgte automatisch. Diese Maßnahme brachte Fanni in eine unbequeme, aber relativ stabile Position. Langsam ließ sie die Füße an der Wand hinunterrutschen. Beide fanden auf dem Rand der Kloschüssel Halt. Fanni ruckelte ein bisschen hin und her, bis sie sich im Gleichgewicht fühlte, dann sprang sie auf den Fußboden. Na also.
Einbruch!
Fanni öffnete die Toilettentür und trat in einen Flur.
Viel kann Doc Haller für das betagte Häuschen hier am Rande des Nationalparks nicht bezahlt haben, dachte sie, während sie den engen, dunklen Gang entlangschlich.
Elektrische Kabel zogen sich, teils frei hängend, unter der Decke dahin. Fanni hielt auf einen schwachen Lichtschein zu. Er fiel aus einer Tür mit Glaseinsatz. Fanni öffnete sie vorsichtig und stand gleich darauf in der Küche: neue Einbauschränke, ein Küchentisch aus Kiefernholz, Eckbank, bestickte Sitzkissen – sauber, ordentlich aufgeräumt.
Doc Haller renoviert sein Häuschen wohl peu à peu, überlegte Fanni.
Sie kehrte in den Flur zurück und betrat forsch das nächste Zimmer: Schrankwand aus den Siebzigern, Couchgarnitur, Fernsehapparat, Blumentöpfe auf einem Stufenpodest.
So sieht das Wohnzimmer der Hallers vermutlich schon aus, seit sie verheiratet sind, dachte Fanni, nichtssagend, stereotyp.
Sie warf einen Blick ins Badezimmer auf der anderen Seite des Gangs. Waschbecken und Badewanne strahlten in neuwertiger Herrlichkeit.
Ohne Zögern wandte sich Fanni der Tür nebenan zu, die – so nahm sie jedenfalls an – ins Schlafzimmer führte. Diese Tür war verschlossen. Der Schlüssel steckte außen. Fanni drehte ihn um.
Es reicht jetzt, Fanni! Du spionierst hier dieses nette alte Ehepaar aus. Schämst du dich nicht? Gar nicht zu reden von all den Gesetzen, die du dabei übertrittst.
Gut, lenkte Fanni ein, ich verschwinde.
Sie ging über den Flur zurück auf die Haustür zu. Ihre Hand lag schon auf der Klinke, da fiel ihr der Treppenaufgang ins Auge.
Bloß ein kurzer Blick noch, rechtfertigte sie ihren Fuß auf der ersten Stufe und stieg entschlossen weiter hinauf.
Das Obergeschoss am Ende der Treppe öffnete sich als einziger, sehr lichter Raum. Darin lagerten Roste, Körbe und Säcke, gefüllt mit getrockneten und halb trockenen Kräutern: Kamillenblüten, Frauenmantel, Salbei, Pfefferminz.
Doc Haller ist imstande, eine komplette Armee mit Arzneitee zu versorgen, dachte Fanni.
Das Trockenkraut war harmlos. Selbst ungekocht verzehrt würde es vermutlich nicht einmal Durchfall verursachen.
Fanni eilte die Treppe wieder abwärts, und jetzt erst sah sie, dass die Stufen nicht im Erdgeschoss endeten. Sie führten weiter hinunter in den Keller.
Fanni folgte ihnen.
Am Ende der Stiege trat sie in einen Gang, ebenso schmal, aber noch dunkler als der darüber. Fanni blieb stehen, kniff die Augen zu und horchte.
Kennt man doch von früher, diese veralteten Elektroinstallationen, freute sie sich, als sich der Lichtschalter durch ein leises Summen verriet. Sie tastete danach und drehte an dem Schaltknopf: Abwasserrohre, ein Gewirr elektrischer Leitungen, ein altertümlicher Sicherungskasten und drei Türen wurden sichtbar.
Die erste Tür führte in den Heizraum, wo der Brenner rachitisch röchelte, die zweite in die Waschküche. Auf der vordersten Leine hing eine ordentliche Reihe blütenweißer Schlüpfer Größe 48.
Die dritte Tür war verschlossen.
Fanni schaute sich suchend um, und dann sah sie dort nach, wo Vera in der vergangenen Weihnachtszeit den Schlüssel zu ihrem Schlafzimmer versteckt hatte, um Max und Minna daran zu hindern, schon im Advent mit den Weihnachtsgeschenken zu spielen: im Sicherungskasten.
Zwei Schlüssel hingen in der rechten oberen Ecke an einem Haken. Fanni nahm beide an sich. Sie steckte den größeren ins Türschloss, er drehte sich glatt.
Fanni betrat Doc Hallers Labor.
Sieht aus wie eine gewöhnliche Küche, dachte sie auf den ersten Blick, Edelstahlspüle, Anrichte, Mülleimer.
Beim zweiten fiel ihr allerdings auf, dass ein Bunsenbrenner den Kochherd ersetzte und statt Töpfen und Pfannen Petrischalen, Reagenzgläser und Messbecher auf den Wandborden
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