Honigmilch
den Rasen und robbte vorwärts. Als endlich auch ihre Füße ebene Erde erreicht hatten, stand sie auf und rannte los.
Sie brauchte keine fünf Sekunden, um Doc Hallers Wagen, Doc Hallers Zufahrt und Doc Hallers Anwesen hinter sich zu lassen.
Die Dorfstraße hinunter lief Fanni langsamer und dankte Gott und allem, was ihr heilig war, dass es in Strömen regnete. Damit konnte sie ihre Eile und ihr ramponiertes Aussehen erklären.
Sprudel saß bereits im Dorfwirtshaus. Er trank soeben einen Schluck aus seiner Kaffeetasse und warf dabei einen Blick aus dem Fenster, als Fanni herankam. Im selben Moment schien er zu wissen, dass ihr etwas anderes widerfahren war als Schlechtwetter. Er legte ein paar Münzen auf den Tisch, fing Fanni an der Tür ab und brachte sie zu seinem Wagen. Dort wickelte er sie in eine Decke und verfrachtete sie auf den Beifahrersitz.
14
Fanni kauerte, frisch geduscht und warm eingepackt, eine dampfende Tasse Tee vor sich, in dem Lehnstuhl, der in Sprudels Zimmer im Hotel Zur Waldbahn stand. Sie hatte Sprudel kleinlaut jedes Detail ihrer Eskapade gebeichtet, aber nun sagte sie aufmüpfig: »Doc Haller stellt in seinem Labor nicht nur Ringelblumensalbe her. Er züchtet auch Bakterien.«
»Fanni«, erwiderte Sprudel, »hast du nicht eben selbst zugegeben, dass du nicht erkennen konntest, was er aus dem Kühlschrank genommen hat? In der Petrischale hätten Lakritzbonbons sein können.«
»Die schließt man nicht extra ein«, belehrte ihn Fanni und fügte hinzu: »Er muss den Schlüssel die ganze Zeit bei sich getragen haben.«
»Muss er nicht«, widersprach Sprudel.
»Trotzdem«, sagte Fanni.
»Fanni«, entgegnete Sprudel ernst, »es gibt keine Möglichkeit herauszukriegen, was Doc Haller in seinem Kühlschrank ausbrütet. Selbst wenn ich deine Beobachtungen haarklein an die Ermittler weitergeben würde – was nicht anzuraten wäre –, es würde gar nichts nützen. Man kann nicht einfach so in Doc Hallers Haus marschieren und die Kühlschränke inspizieren. Und komm mir jetzt bloß nicht mit einem Durchsuchungsbefehl. Dafür muss ein begründeter Verdacht vorliegen.«
Fanni schniefte. Sie hatte eine Heidenangst ausgestanden, hatte sich Hände und Unterarme aufgeschürft, die Hose ruiniert. Und – sie hatte ein verdächtiges Labor in einem Keller entdeckt. Wofür? Um am Bürokratismus zu scheitern.
»Komm«, sagte Sprudel sanft, »wir gehen in die Gaststube hinunter und versuchen die Vanillecremetorte, die unser Hotelier heute anpreist. Cappuccino dazu, und dann sehen wir weiter.«
Fanni nickte kläglich und schälte sich aus der Decke.
Es ging auf drei Uhr nachmittags zu. Die Gaststube war nur spärlich besetzt. An Werktagen lohnte sich das Geschäft im Restaurant wohl nur abends. Das hübsche Mädchen im Dirndl wurde durch eine ältliche Frau vertreten, die schwarze Hosen und einen dunkelgrauen Rollkragenpullover trug. Sie servierte ihnen zwei große Stücke Vanillecremetorte.
Der Hotelchef hatte nicht zu viel versprochen. Fanni ließ die Creme auf der Zunge zergehen, löste den Biskuit mit Cappuccino zu einem köstlichen Mus auf. Sie beschwor sich dabei, Annabel und Irina endlich in Frieden ruhen zu lassen, betreffs Severin Ruckerbauer auf die Kompetenz seiner Richter zu vertrauen und Doc Haller samt allen Stammtischbrüdern zu vergessen. Abschließend versicherte sich Fanni eindringlich, dass es weit Schlimmeres gab als ungelöste Rätsel.
Nachdem sie den letzten Kuchenkrümel vom Teller gekratzt hatte, fiel ihr ein, dass Sprudel einen Teil des heutigen Vormittags mit Doc Haller verbracht hatte. Sie erkundigte sich, wie der Ausflug mit ihm verlaufen war.
»Wir kamen nicht weit«, berichtete Sprudel, »schon als es zu tröpfeln anfing, sind wir umgekehrt.«
»Hast du ihm wegen der falsch benannten Pflanzen auf den Zahn gefühlt?«, fragte Fanni.
»Ich habe es versucht. Aber es kam nichts dabei heraus.« Er zögerte.
»Du hast von den Pflanzen gesprochen, die du gemeinsam mit ihm gesammelt und nach seiner Anweisung beschriftet hast«, insistierte Fanni, »und er hat nicht ›April, April‹ gerufen«?
»Doc Haller hat nach wie vor so getan, als ob alles seine Ordnung habe«, gab Sprudel widerstrebend zu.
»Das entlarvt ihn als Lügner«, folgerte Fanni.
Sprudel nickte stumm, winkte der Dame in Dunkel und bestellte Mineralwasser. Eine Minute später kam der Hotelchef mit zwei kleinen Flaschen samt Gläsern an den Tisch und schenkte ein.
»Haben Sie es auch schon
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