Honigtot (German Edition)
nicht mehr als höfliche Konversation. Hätte Deborah aufgeblickt, wäre ihr der angespannte Ausdruck in Marlenes Gesicht aufgefallen.
„Nun ja, es ist gestern spät geworden“, murmelte sie stattdessen einsilbig. Ihr stand nicht der Sinn danach, zuzugeben, dass sie Marlenes Rat nicht beherzigt hatte - zumal der Ausgang ihrer Intervention noch im Ungewissen lag.
Marlene hatte längst ihre eigenen Schlüsse gezogen. Sie nickte wissend, aber auch das bemerkte Deborah nicht, deren Blick starr nach unten gerichtet war – und nun Marlenes Schuhe streifte, ein Paar Schnallenpumps, `Mary-Janes´ genannt, wie sie auch Deborahs Mutter so oft getragen hatte. Mit einer Heftigkeit, die sie selbst überraschte, überkam Deborah eine solch schmerzliche Sehnsucht nach Elisabeth, dass ihr Augen und Seele überquollen und sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten konnte.
„Aber, aber Chérie … was ist denn los?“, rief Marlene. Sie legte Deborah einen Arm um die Schulter und lenkte ihre Schritte zu einer nahegelegenen Bank. Sie stand unter einer riesigen alten Eiche mit tiefhängenden Ästen, so dass die grünen Blätter sie wie ein schützender Vorhang umgaben.
Marlene setzte die schluchzende Deborah auf die Bank, suchte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch und drückte es ihr in die Hand. Dann nahm sie neben ihr Platz, zog Deborah in ihre Arme und wartete - ganz gegen ihre Gewohnheit - still ab, bis Deborahs Tränenstrom versiegen würde.
Deborah weinte und weinte. Endlich löste sich ihr Schwall an Tränen in einem Schwall von Worten auf.
Deborah erzählte Marlene alles: Vom spurlosen Verschwinden ihres Vaters, dem nächtlichen Abtransport, dem Tod der Mutter und dass ihr Stiefvater jetzt ihr Liebhaber war. Nur eines erzählte sie ihr nicht, dass ihr Vater Jude und sie somit Halbjüdin war. Eine letzte mahnende Stimme hielt sie zurück.
Marlene hörte ihr ruhig zu, drückte ihren Kopf an sich und streichelte ihr beruhigend über das Haar. Alles, was sie sagte, war: „Arme Kleine.“ Keine weiteren Worte des Bedauerns, keine Bewertung zu Deborahs Status als Geliebte ihres Stiefvaters.
Deborah war ihr dafür dankbar. Weder erwartete sie Mitleid noch eine Bestätigung ihrer eigenen Scham. Es war ein spontaner Ausbruch gewesen, der ihr kaum Erleichterung verschafft hatte. Trotzdem tat es gut, hier mit Marlene auf der Bank zu sitzen, zu schweigen und dem Gezwitscher der Vögel zu lauschen. Der Gedanke, dass die Natur stets ihren eigenen Gesetzen folgt, unberührt davon, dass die Welt der Menschen um sie herum aus den Fugen geriet, hatte etwas Tröstliches für sie.
Die beiden jungen Frauen blieben noch eine Weile sitzen und setzen dann ihren Spaziergang gemächlich fort.
Marlene erzählte nun selbst ein wenig aus ihrem Leben. Sie schwärmte von ihrer Begegnung mit Mademoiselle Chanel in Paris an deren Wohnsitz, dem Hotel Ritz. „Alors, das ist mal eine richtig unabhängige Person. Sie hat nie geheiratet und nimmt sich die Liebhaber, die sie will, und lebt dann mit ihnen zusammen. Zurzeit ist sie mit dem deutschen Baron von Dincklage zusammen, einem Sonderbeauftragten des Reichspropaganda-Ministeriums. Er ist dreizehn Jahre jünger als sie“, ergänzte sie mit aufrichtiger Bewunderung – um daraufhin zu seufzen, als dächte sie gerade an einen für sie unerreichbaren Traum. Marlene selbst war zu jung, um Erfahrungen mit jüngeren Männern gesammelt zu haben wie Mademoiselle Chanel. Aber Deborah vermutete stark, dass sie sich gerade gewünscht hatte, dass ihr Ernst im Allgemeinen dreizehn Jahre jünger sein könnte …
Deborah hörte Marlene zwar zu, aber es fiel ihr schwer, sich auf ihre Worte zu konzentrieren. Ihre derzeitige Gefühlslage glich einem Paradoxon. Sie war von innerer Unruhe erfüllt, konnte es kaum erwarten, dass es Abend wurde, und gleichzeitig empfand sie Furcht davor. Dabei galt ihre Sorge nicht nur den jüdischen Deportierten, sondern auch der Frage, wie es um ihre Beziehung zu Albrecht stand. Zum ersten Mal war seine Beherrschung von ihm abgefallen, hatte Albrecht sie scharf zurechtgewiesen und so grob gepackt, dass an ihren Armen dunkle Abdrücke zurückgeblieben waren.
Die Erkenntnis, gestern einen ersten Eindruck von Albrechts dunkler Seite bekommen zu haben, ließ Deborah in der warmen Frühlingssonne frösteln. Albrecht hatte sich zwar schnell wieder in der Gewalt gehabt, aber die Angst war Deborah bis ins Mark gefahren.
Nun hatte sie am eigenen Leib erfahren, dass ihr Handeln
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