Honigtot (German Edition)
Amon und seine Begleitung kommen gleich hierher und bringen noch einen Freund mit. Wir wollen zusammen in der Stadt essen.“
„Hast du denn nicht verstanden, was ich gerade gesagt habe, Albrecht? Das waren ausschließlich Frauen und Kinder. Kannst du nicht etwas für sie tun? Bitte … für mich?“
Albrecht sah ihr erhitztes Gesicht, das kindliche Flehen in ihren Augen und begriff, dass das Mädchen nicht eher Ruhe geben würde, bis er sagte, was sie hören wollte. Er tat ihr den Gefallen.
„Also gut. Wenn dir das Schicksal dieser Unbekannten so sehr am Herzen liegt, werde ich morgen sehen, was ich tun kann. Aber jetzt will ich nichts mehr davon hören, verstanden? Beeil dich jetzt und zieh dir endlich was an, Maria. Wir wollen nicht zu spät kommen.“ Sein Ton war unmissverständlich. Er zog sie vom Stuhl hoch, presste sie fest an sich und küsste sie so lange, bis er spürte, wie sich Deborah in seinen Armen endlich entspannte.
Es wurde dann noch ein angenehmer und schöner Abend. Amon Göth konnte, wenn er wollte, sehr charmant plaudern. Seine junge Freundin Ingrid hing den ganzen Abend über anbetend an seinen Lippen. Sie schien ihm in geradezu devoter und blinder Liebe ergeben zu sein. Deborah amüsierte sich insgeheim über sie.
Interessant fand sie den Freund, den Amon Göth mitgebracht hatte. Er hatte sich als Oskar Schindler vorgestellt. Er war ein großer Mann mit ernstem Blick und besaß einen klugen, zynischen Humor, der Deborah an ihren Vater erinnerte.
Sie unterhielten sich lange und angeregt über die Oper und die Musik. Bald stießen noch weitere Bekannte dazu, es wurden wieder ungeheure Mengen an Alkohol konsumiert und je schneller sich die Flaschen auf dem Tisch leerten, umso lauter tönte die Gesellschaft.
Am Ende war Deborah wieder die einzig Nüchterne. Je betrunkener die anderen im Laufe des Abends wurden - wobei sich Albrecht noch am meisten von allen zurückhielt -, um so fremder fühlte sie sich unter ihnen und umso geschärfter wurde ihr Blick. Kurz streifte sie der Gedanke, was sie eigentlich unter all diesen Leuten hier wollte? Was hatte sie mit ihnen zu schaffen?
Zum ersten Mal seit Beginn ihrer Reise verspürte Deborah Heimweh – und ein schlechtes Gewissen, weil sie ihren kleinen Bruder allein zurückgelassen hatte. Selbst wenn ihr Onkel Poldi versprochen hatte, sich um ihn zu kümmern – es war nicht dasselbe. Sie sehnte sie nach dem Wolferl und seiner überschwänglichen Bewunderung und Liebe für sie. Besonders sehnte sie sich gerade in dieser Umgebung nach seiner Unschuld.
In der Nacht stillte sie ihren Hunger in der gewohnten Weise an Albrecht, aber zum ersten Mal wurde sie nicht richtig satt.
Am nächsten Tag verschaffte sie sich Erleichterung, indem sie ihre Arme mit dem Obstmesser ritzte. Es war das erste Mal wieder seit München.
Kapitel 4 1
Gegen 11:00 Uhr am nächsten Morgen meldete ihr die Rezeption den Besuch von Marlene Kalten. Deborah war sich nicht sicher gewesen, ob sie tatsächlich kommen würde, gestand sich aber ein, dass sie es gehofft hatte. Sie hatte sich schon früh zum Ausgehen bereitgemacht. Der Brief an ihren Bruder war geschrieben und bereits von ihr beim Portier abgegeben.
Albrecht war in aller Frühe aufgebrochen. Deborah hatte, bevor er ging, von ihm nochmals die Zusicherung verlangt, sich nach dem Schicksal der jüdischen Familien zu erkundigen.
Tatsächlich war es wegen Deborahs Hartnäckigkeit zu einer ersten, hässlichen Szene zwischen ihnen gekommen. Daraufhin war Albrecht grußlos verschwunden.
Deborah blieb mit dem beunruhigenden Gefühl zurück, vielleicht zu weit gegangen zu sein und letztendlich rein gar nichts durch ihre Einmischung erreicht zu haben.
Marlene benahm sich aufgekratzt und fröhlich wie immer, zwitscherte ein paar Takte über das ungewöhnlich milde Aprilwetter und schlug einen Ausflug zum Planty Park vor, der die Altstadt Stare Miasto umgab – dort, wo einst mittelalterliche Mauern die Stadt geschützt hatten.
Deborah hatte nichts dagegen einzuwenden. Ihr war nach der Episode mit Albrecht sehr nach Weite und frischer Luft. Marlene dirigierte den Chauffeur zum Florianstor, dem letzten Überbleibsel der alten Wawel-Burganlage und nun einer der Eingänge zum Park.
„Du siehst heute Morgen blass aus, Chérie. Schlecht geschlafen?“, eröffnete Marlene den Spaziergang. Sie trug ein hellblaues Frühlingsensemble mit passendem Hut und einer kecken Feder daran. Die Frage erschien harmlos,
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