Honigtot (German Edition)
verschwunden, er lauerte tief in ihrer Seele, allzu bereit, sie zurück in ihre ganz private Hölle zu schleudern und mit den Qualen ihrer Erinnerung zu peinigen. Erneut durchlitt Deborah das namenlose Entsetzen und die qualvolle Ungewissheit, fühlte die Enge, hörte das Wehklagen, roch den Gestank der Angst.
All dies entlud sich in einer jähen Panik. Sie bekam keine Luft mehr und glaubte, ersticken zu müssen. Sie riss sich die Kleider vom Leib und stürzte ins Bad. Dort ergriff sie die Bürste und schrubbte ihre blanke Haut mit hektischen Bewegungen solange, bis ihr Körper an vielen Stellen zu bluten begann.
Doch der Schmerz, sonst ihr verlässlichster Verbündeter, wollte sich nicht einstellen - der Schrecken ließ sich nicht einfach abbürsten. Völlig erschöpft sank Deborah auf den Boden und kühlte ihre heiße Stirn auf den nackten Marmorfliesen. Sie wusste nicht, wie lange sie so reglos dagelegen hatte. Endlich kroch sie auf allen Vieren aus dem Bad zum Bett und hinterließ dabei auf dem weißen Teppich blutige Spuren.
Im Bett rollte sie sich wie ein Embryo zusammen und wartete auf die erlösenden Schmerzen. Sie kamen nicht. Nur ihre Gedanken waren scharf und klar geworden. Plötzlich konnte sie sich selbst wie in einem Spiegel sehen, vielleicht, wie ihr Vater sie sehen würde, wenn er jetzt das Zimmer betreten würde.
Sie richtete sich auf und musterte den überbordenden Luxus, der sie umgab, die erlesene Einrichtung und den dicken Teppich, den prall gefüllten Obstkorb und die Seidenbettwäsche, die nach Lavendel duftete. Schließlich traf ihr Blick auf den Schrank, an dem das silbern schimmernde Abendkleid hing, das der hoteleigene Reinigungsdienst am Morgen zurückgebracht hatte.
Mit einem Mal überkam Deborah tiefe Scham, sie durchflutete sie wie eine heilende Welle. Und mit der Scham kamen endlich auch die Schmerzen. Aber dieses Mal waren sie nicht Erlösung, sondern nur bloße Pein.
Deborah war aufgewacht aus einem Rausch der Sinne und in der Realität angekommen.
Nach einer Weile stand sie ruhig auf und putzte das Bad. Danach entfernte sie die blutigen Flecken auf dem Teppich so gut es ging mit kaltem Wasser.
Als Albrecht am Abend zurückkehrte, fand er Deborah am Schreibtisch vor. Barfuß und im Bademantel verfasste sie einen langen Brief an ihren Bruder - den ersten überhaupt seit Beginn ihrer gemeinsamen Reise mit Albrecht.
„Guten Abend, Liebes. Hast du einen schönen Tag mit dieser Marlene verbracht?“ Albrecht durchquerte den Raum und küsste Deborah auf den Nacken. Er bemerkte sogleich, dass etwas anders an ihr war, wusste jedoch nicht auf Anhieb zu sagen, woran dies liegen mochte.
Deborah drehte sich zu ihm um und ignorierte gleich mit dem ersten Satz Marlenes Rat: „Nein. Mein Tag war nicht schön. Ich musste mit ansehen, wie mehrere Lastzüge voller verängstigter Frauen und Kinder abtransportiert wurden. Jüdische Gefangene. Es waren deine Kameraden von der SS, die das getan haben. Wusstest du davon?“
Albrecht begriff jetzt, was an Maria anders war: Sie wirkte irgendwie ernster, älter. Was zum Teufel war heute mit dem Mädchen passiert? Noch am Morgen hatte er eine verspielte, genusssüchtige Göre zurückgelassen und heute Abend sollte er sich vor ihr rechtfertigen? Misstrauisch registrierte er ihren nachlässigen Aufzug, das ungemachte Haar.
„Was soll das jetzt? Hat etwa diese Schauspielerin dir diese Flausen in den Kopf gesetzt?“, erwiderte er böse.
Deborah erkannte ihren Fehler sofort. Genau davor hatte Marlene sie gewarnt. Es wäre nicht fair, sie jetzt dafür büßen zu lassen. „Nein. Sie hat absolut nichts damit zu tun, Albrecht. Im Gegenteil, sie hat gemeint, es gehe mich nichts an und das wären alles nur Kriminelle gewesen“, antwortete sie deshalb hastig. „Aber Albrecht! Sie trugen die Armbinden mit dem Davidstern! Die Kinder können doch unmöglich alles Verbrecher sein? Darum dachte ich, dass hier vielleicht ein ähnliches Versehen vorliegen könnte, wie damals, als die SS-Männer in unsere Wohnung kamen und meinen Bruder und mich verschleppt haben.“ Es lag etwas Anrührendes in ihrer Stimme und ihr Körper hatte sich ihm in stummem Flehen zugewandt.
Albrecht musterte sie einige Sekunden, als wollte er die Situation neu einschätzen. Dann sagte er ruhig: „Zerbrich dir darüber nicht dein hübsches Köpfchen, Maria. Das sind politische Angelegenheiten, wohl durchdacht vom Führer. Zieh dich jetzt an und mach dich für mich schön.
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