Honigtot (German Edition)
wie eine völlig andere Person. Nicht einmal Marlene würde sie so erkennen!
Um im Hotel nicht unnötig aufzufallen, streifte sie beides wieder ab und zog die einfachen Kleidungsstücke erst in einer ruhigen Nebengasse über.
* * * * *
Der Hauptmarkt unterschied sich in vielerlei Hinsicht vom Marienplatz oder Viktualienmarkt in München und doch eigentlich wieder nicht. Deborah hätte nicht beschreiben können warum, aber sie fühlte sich dort seltsam zuhause. Es war ein 200 mal 200 Meter messendes Geviert und hatte im Mittelalter als der größte europäische Markt gegolten. Zahlreiche Bürgerhäuser, fast alle zweistöckig und mit schmalen Fronten und tiefen Höfen, rahmten ihn ein. Die Häuser wurden Rynek Glówny genannt. Verschiedene Baumeister hatten sich im Laufe der Jahrhunderte an ihnen versucht und sie mit Barock- und Renaissancemerkmalen reich verziert.
Auf der einen Seite wurde der Markt von der berühmten, einhundert Meter langen Tuchhalle Sukiennice eingerahmt, dem größten Bürgerbau der Stadt. Ein Italiener, Santi Gucci, hatte sie Mitte des 16. Jahrhunderts im Renaissancestil erbaut. Vom alten Rathaus selbst war nur noch der Turm erhalten.
Das Einzige, was Deborah an dem Treiben auf dem Markt störte, war, dass es ihm irgendwie an Unbeschwertheit mangelte. Der Viktualienmarkt ihrer Kindheit war bunt und laut gewesen, ein Gedränge und ein Rufen, selbst wenn die feilgebotenen Waren in den letzten Jahren nicht gerade üppig vorhanden waren, aber trotzdem war die Freude am Verkaufen und Feilschen bei den Münchnern immer spürbar gewesen. Die polnischen Verkäufer und Marktbesucher wirkten hingegen merkwürdig gezwungen, als stünden sie unter permanenter Anspannung. Viele der Käufer strahlten eine gewisse Hektik aus, sie huschten von Stand zu Stand, als wollten sie ihre Einkäufe so schnell wie möglich hinter sich bringen und nach Hause zurückkehren. Diesen Eindruck hatte Deborah allerdings erst gewonnen, seit Marlene ihre Beobachtungsgabe dafür geschärft hatte. Deborah korrigierte ihre Haltung nochmals und ahmte eine Bäuerin nach, die in der einen Hand einen Korb trug und mit der anderen ihr Kopftuch unter dem Kinn festhielt. Sie musste sich unbedingt noch so einen Korb besorgen!
Wie so oft suchten Deborahs Augen auf dem Platz das Denkmal von Adam Mickiewicz, das stets von einem Schwarm Tauben umlagert wurde. Marlene hatte ihr erzählt, dass die Vögel der Legende nach alles verwunschene Ritter wären. Am besten gefiel Deborah die Marienkirche mit ihren zwei mächtigen Türmen. Sie hatte sie schon oft besucht. Sie konnte nicht genau sagen, warum es so war, aber merkwürdigerweise fühlte sie sich in der Kirche ihren Lieben zuhause besonders nahe - als verfügte das Gotteshaus über eine direkte Verbindung nach München. Lag es am leisen Murmeln der wenigen alten Frauen, die schwarz gewandet die fast leeren Bänke besetzten, während sich ihre Hoffnung auf Gott mit dem Duft des Weihrauchs vermengte? Jedenfalls linderte die Kirche Deborahs Heimweh. Auch jetzt steuerte sie auf die Kirche zu.
Plötzlich hörte sie laute Rufe ganz in ihrer Nähe. Sie wandte sich automisch der Richtung zu, aus der sie das „Halt, stehenbleiben!“ gehört hatte und sah einen Mann in vollem Lauf direkt auf sich zukommen. Sie wich nach rechts aus.
Leider hatte der Mann die gleiche Idee, er prallte voll gegen Deborah und riss sie dabei um. Deborah stieß sich im Fallen schmerzhaft an dem Kopfsteinpflaster. Instinktiv hatte sie versucht, sich mit den Händen abzufangen. Am Boden sitzend, inspizierte sie ihre zerschundenen Handflächen, Blut sickerte aus einigen Rissen. Mit den Augen suchte Deborah jetzt nach ihrer Handtasche, als ihr einfiel, dass sie heute ja keine mitgenommen hatte. Das elegante Krokoleder hätte nicht zu ihrer Verkleidung gepasst. Also kein Taschentuch.
Neben sich hörte sie jetzt den Mann stöhnen, der sie umgerissen hatte. Er war schon etwas älter und trug einen fadenscheinigen Anzug. Eine zerbrochene Brille lag nicht weit von ihm. Offenbar hatte er sich bei dem Sturz mehr getan als sie, er lag zusammengekrümmt wie ein Embryo und hielt seine Schulter umklammert. Deborah rutschte zu ihm. „Hallo, können Sie mich verstehen?“ Bevor der Mann ihr noch antworten konnte, waren zwei weitere Männer herangeeilt. Offenbar seine Verfolger. Sie trugen die Uniform von Angehörigen der SS-Polizei. Von Marlene wusste Deborah, dass es hauptsächlich diese Männer waren, die die
Weitere Kostenlose Bücher