Honigtot (German Edition)
hieß eigentlich Anna von Dürkheim.
Annas Mutter war eine galizische Jüdin aus Krakau, ihr Vater ein junger deutscher Adeliger. Es war die typische Mesalliance jener Zeit. Sie, das arme, slawische Dienstmädchen und er, der Sohn des Hauses. Der alte Baron hatte seinen einzigen Sohn daraufhin enterbt, da er weit unter Stand gewählt hatte. Marlenes Vater hatte im ersten Weltkrieg als Offizier gekämpft und war in den letzten Kriegstagen 1918 in Frankreich gefallen – ohne je erfahren zu haben, dass er ein Kind haben würde. Ihre Mutter wurde weniger Monate später, kurz nach Annas Geburt, von der spanischen Grippe dahingerafft.
Anna wuchs behütet in Berlin in der Obhut der Großeltern auf, die nach dem Verlust des Sohnes ihr einziges Enkelkind doch noch angenommen hatten. Anna hatte gerade ihr Abitur bestanden, als die Nazis begannen, die ersten Juden zu deportieren. Sofort hatte sie sich einer Studenten-Organisation angeschlossen, die vor allem mittellosen Juden half, aus Deutschland zu flüchten. Anfang 1939 war sie von der Gestapo gefasst und in die Hände des Sadisten Hubertus von Greiff geraten. Ihr Großvater hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um sie aus dem Gefängnis zu holen; es hatte ihn eine Menge Gefälligkeiten und ein halbes Vermögen gekostet.
Ein Monat in den Händen der Gestapo hatte Annas Willen nicht brechen können. Im Gegenteil, es hatte sie nur umso mehr darin bestärkt, weiter für die Sache der Juden zu kämpfen. Gegen den Willen ihrer Großeltern reiste sie im Frühjahr 1939 nach Krakau, um die Familie ihrer Mutter, die sie selbst nie gekannt hatte, zu suchen und um ihre Wurzeln zu finden. Und sie fand sie: Ihre Familie, zwei ältere Schwestern mit ihren Männern, nahm sie mit offenen Armen auf.
In Krakau war sie dann Jakob begegnet, hatte sich Hals über Kopf in ihn verliebt und beschlossen, für immer zu bleiben.
Doch die Nazis waren schließlich auch nach Polen und nach Krakau gekommen. Anna schloss sich wie Jakob der ZOB an, änderte ihr Aussehen und nahm den Namen Marlene Kalten an. Seit mehr als zwei Jahren führte sie ein Doppelleben.
Marlenes Befürchtungen waren umsonst.
Deborah war nach wie vor fest dazu entschlossen, sich in dieses neue, aufregende Abenteuer zu stürzen. Sie fühlte sich dadurch freier und vor allem erwachsen. Besonders gefiel ihr daran, dass sie dadurch Teil von etwas Großem und Sinnvollem geworden war - etwas, wovon Albrecht nichts wusste und ausgeschlossen war.
Marlene kam erneut auf die Papiere in Albrechts Tasche zu sprechen. „Aber wenn wir sie entwenden, weiß Albrecht doch sofort Bescheid, oder?“, wandte Deborah ein.
„Natürlich nehme ich sie nicht an mich, du Schaf. Ich würde sie nur sichten und fotografieren. Er wird nicht merken, dass sich jemand daran zu schaffen gemacht hat. Aber zunächst sollten wir überlegen, wie wir überhaupt an sie herankommen können.“
„Ich könnte versuchen, die Zahlenkombination vom Safe herauszubekommen“, bot Deborah mit dem Eifer der neu Rekrutierten an.
„Wie willst du das anstellen? Dich hinter Albrecht stellen und ihm beim Öffnen zusehen? Nein, das wäre viel zu offensichtlich.“ Marlene schüttelte den Kopf. „Albrecht Brunnmann gilt als extrem misstrauisch. Er könnte Verdacht schöpfen. Unnötig, dich auf diese Weise in Gefahr zu bringen. Tja, wir können wohl kaum darauf hoffen, dass er versehentlich einmal vergisst, die Unterlagen im Tresor zu hinterlegen. Das wäre das Einfachste. Warum sollte er es uns auch leicht machen“, schloss Marlene verdrießlich.
Deborah hatte bei ihren letzten Worten aufgehorcht.
„Im Gegenteil! Das ist sogar schon ein paar Mal passiert. Aber nicht, seit wir hier in Krakau sind. Tut mir leid, Marlene, aber ich habe bisher nicht sonderlich darauf geachtet.“ Deborah schien darüber ehrlich betrübt zu sein, dass sie etwas von solch essentieller Bedeutung bisher kaum Beachtung geschenkt hatte.
Angestrengt versuchte sich Deborah an die wenigen Gelegenheiten zu erinnern, als Albrecht die Tasche lediglich auf Tisch oder Sofa deponiert und deren Inhalt erst später im Tresor untergebracht hatte. Eigentlich war dies immer nur dann geschehen, wenn sie ihn ungeduldig an der Tür abgefangen und ihm keine Luft für etwas anderes gelassen hatte, außer ihn begierig ins Bett zu zerren. Es könnte funktionieren: Sie würde Albrecht ablenken und so durcheinanderbringen, in der Hoffnung, dass er es vielleicht erneut vergessen würde. Danach müsste sie ihn zu
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