Honigtot (German Edition)
und Ausgleich bedacht war. Es waren Deborahs kleine Unvorsichtigkeiten, die Marlene derart in Aufregung versetzten.
„Du hast was?“, rief sie wieder einmal entsetzt, dämpfte aber sofort ihre Stimme. Sie saßen am späten Vormittag auf dem Sofa der Suite. Deborah hatte Marlene gerade gestanden, dass sie am Abend zuvor Albrecht vorgeworfen hatte, dass ihm seine dämliche Aktentasche wichtiger wäre als sie.
Es frustrierte Deborah zunehmend, dass, egal wie raffiniert sie sich für Albrecht zurechtmachte und ihn zu verführen suchte, er - im Gegensatz zu den ersten Tagen ihrer Liaison -, jetzt immer einen kühlen Kopf bewahrte und sie zunächst, wenn auch lachend, abwimmelte, um seine kostbaren Papiere sicher im Safe zu verstauen.
„Verdammt, ich habe dir doch gesagt, dass du so tun musst, als wäre diese Tasche für dich nicht existent!“ In Ermangelung laut werden zu können, ließ Marlene ihrer Wut freien Lauf, indem sie in das Sofakissen boxte. Dieses verflixte Kind würde noch alles ruinieren!
Später am Nachmittag traf Marlene mit Jakob zusammen und berichtete ihm davon. Doch er zuckte nur mit den breiten Schultern: „Na und? Sie benimmt sich eben wie jedes junge Mädchen. Sie ist eifersüchtig auf diese Tasche. Vermutlich war es nicht einmal falsch von ihr, sondern eher natürlich, auf diese Weise zu reagieren. Vielleicht braucht ihr einfach nur einen neuen Plan. Die Zeit zerrinnt uns allmählich zwischen den Fingern. Die Ermordung der polnischen Juden ist längst beschlossene Sache. Immer mehr werden in die Ghettos gepfercht. Aus Warschau haben mich heute auch beunruhigende Nachrichten erreicht. Wir planen deshalb in Kürze einen großen Schlag gegen die Nazis. Wenn er uns gelingt, wird unsere Lage hier noch prekärer werden. Die Deutschen werden dann jeden verdammten Kieselstein umdrehen. Wir sollten uns deshalb unbedingt vorher der Informationen von Brunnmann versichern. Denk dir also was aus, Marlene, aber rasch.“
Zwei Tage und einen weiteren missglückten Versuch später reagierte Deborah recht aufgebracht auf einen von Marlene gut gemeinten Ratschlag und verbat sich strikt deren Bevormundung.
Marlene zog es vor, einem Streit aus dem Weg zu gehen. Sie blies ihr Vorhaben für diesen Abend kurzerhand ab, sagte, dass sie sich sowieso gleich mit Ernst treffen wollte und verließ sie.
Mit fatalen Folgen. Einfach so ignoriert zu werden, kränkte Deborah zutiefst. Außerdem haderte sie mit ihrer Spionagetätigkeit. Sie hatte sich weit mehr davon für sich erhofft. Sie wollte sich gerne als richtige Spionin fühlen und etwas Großes und Wichtiges zur Sache beitragen, aber bis dato hatte sie so gut wie noch gar nichts ausspioniert - außer ein paar Tischgespräche belauscht und deren Inhalt an Marlene weitergegeben. Ob davon etwas für den Widerstand verwertbar war, würde sie sowieso nie erfahren. Vor allem aber beschäftigte sie das hässliche Erlebnis, das ihr am Morgen erst widerfahren war. Der Schock saß tief. Zu gerne hätte sie ihrer Freundin davon erzählt und sich mit ihr ausgetauscht. Erneut schoss Deborah das Erlebte durch den Kopf - die Angst, die Scham und ihre hilflose Ohnmacht.
Seit Marlene ihr den Krakauer Hauptmarkt gezeigt hatte, zog es Deborah immer wieder dorthin. Beinahe jeden Tag spazierte sie allein zu Fuß los. Auch heute Morgen. Sie hatte nicht lange überlegt und dann aus dem Schrank einen einfachen dunklen Kittel und ein Kopftuch hervorgezogen. Beides hatte sie erst kürzlich auf dem Markt erworben. Die meisten Frauen auf Krakaus Straßen kleideten sich auf diese unauffällige Art. Wenn sie bisher nur eine verhinderte Spionin war, so wollte sie heute wenigstens ausprobieren, wie es sich anfühlte, als einfache Polin durch Krakau zu wandern. Zwar genoss es Deborah bei ihren Spaziergängen, in ihrer schicken Kleidung aufzufallen, aber heute Morgen war ihr nicht danach gewesen. Dieses Mal wollte sie herausfinden, wie es war, unbeachtet zu sein und mit der Menge zu verschmelzen, quasi in ihr unterzutauchen und ein Niemand zu sein. Außerdem gehörte es zu ihrer Bühnen-Ausbildung, in andere Rollen zu schlüpfen. Seit sie ein kleines Mädchen war, hatte sie ihre Mutter zuhause bei ihren Rollenstudien beobachtet und imitiert.
Sie hatte lange vor dem Spiegel geprobt, auch eine andere Haltung, die Schultern etwas hochgezogen. Ja, Deborah nickte ihrem Spiegelbild zufrieden zu: In dieser Haltung, ihr Haar unter dem Kopftuch verborgen, und in dem unförmigen Kittel wirkte sie
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