Honigtot (German Edition)
den Münchner Neuesten Nachrichten. Gustavs Freund Fritz Gerlich fungierte seit 1920 als deren Chefredakteur.
Selbstverständlich waren der Putschversuch und die Suche nach dem Flüchtigen der Aufmacher des Tages. Gleich neben dem Leitartikel prangte das blasse Konterfei des Revolutionärs. Das entdeckte Elisabeth aber erst, als ihr Gatte die erste Seite umschlug und somit vollständig hinter der Zeitung abtauchte.
Sie schmollte ein wenig, weil er der Lektüre mehr Aufmerksamkeit als dem Essen widmete, ganz zu schweigen von ihrer entzückenden Präsenz. Sie hatte sich heute besonders reizend für ihn zurechtgemacht und sah geradezu bezaubernd aus, wie Ottilie ihr beigepflichtet hatte, in ihrem maßgeschneiderten, blauen Tageskleid, das ihre zarten Konturen perfekt zur Geltung brachte.
Nun, da sie das Bild erkannt hatte, wusste sie, wie sie die ungeteilte Aufmerksamkeit ihres Gatten auf sich lenken konnte.
Mit ihrer melodischen Stimme rief sie über die Zeitung hinweg: „Sieh an, da ist er ja, Gusterl, dort auf dem Titel. Der Mann, den ich gestern Abend bei Helga getroffen habe. Wirklich, ich verstehe einfach nicht, was alle für ein Spektakel um diesen Mann veranstalten. Ich fand ihn absolut fad. Und stell dir vor, nicht einmal rasiert war der! Ein kleiner Mann. Ottilie hält auch nichts von ihm. Wirklich, man sollte doch mehr auf die Stimme des Volkes hören. Die haben ein Gespür für so etwas.“
Die erzielte Wirkung war sensationell. Gustav zuckte zusammen, als hätte man ihn angeschossen. Die Zeitung entglitt seinen Fingern. Bei dem Versuch, sie mit einer schwungvollen Handbewegung doch noch zu fassen zu bekommen, stieß er seine fast volle Kaffeetasse vom Tisch.
Felix, der Dackel, der wie immer unter dem Tisch gelauert hatte, sprang jaulend von dannen und roch noch zwei Tage später nach Kaffee. Gustav indes ignorierte sowohl das Malheur als auch den Dackel.
Er starrte Elisabeth über den Tisch hinweg entgeistert an. „Um Himmels willen, Elisabeth! Du hast doch hoffentlich nicht Ottilie verraten, dass du den Mann persönlich gesehen hast?“ Gustav dachte entsetzt an Ottilies Zunge, die sich an jeder Nachricht wetzte. Wenn bekannt wurde, dass seine Frau gestern den Hitler in persona getroffen hatte – nicht auszudenken, welche Folgen dies hätte in diesen unruhigen Zeiten! Fieberhaft überlegte er, wie viele Leute wussten, dass seine Frau eng mit Helga Putzinger befreundet war? Im Geiste sah Gustav bereits ein Dutzend von Kahrs Gendarmen, wie sie sein Haus stürmten.
Die besondere Verbindung von Bubi Putzinger zu Adolf Hitler war hinreichend bekannt. Bubi hatte Hitler sogar zum Paten des kleinen Egon gemacht! Gustav wusste, dass er an die politische Zukunft jenes Mannes glaubte und die gescheiterte Existenz des österreichischen Ex-Gefreiten mit großem Einsatz förderte. Es war ihm in kurzer Zeit gelungen, Hitler in die Münchner bürgerliche Prominenz einzuführen, die die Politik des ehemaligen Wiener Obdachlosen mit großzügigen Parteispenden und egoistischen Hintergedanken finanzierten. Mehr und mehr füllte Bubi dabei die Rolle des inoffiziellen Pressesprechers Hitlers aus. Er brüstete sich sogar damit, dass er dem Hitler die Idee mit den Fackelmärschen suggeriert hatte, weil er in Harvard, wo ehemalige Studenten bei ihren Jahrestreffen ebensolche veranstalteten, selbst erlebt hatte, wie imposant und effektvoll sie in ihrer Wirkung sein konnten.
Und er hatte sogar das Kunststück zuwege gebracht, vorgestern im Bürgerbräukeller, also inmitten des währenden Putsches, eine spontane Pressekonferenz für die anwesenden ausländischen Berichterstatter, vornehmlich Amerikaner, abzuhalten. Das hatte Gustav heute Morgen ein Patient zugetragen, der eine unangenehme nächtliche Begegnung mit einer flüchtenden SA-Rotte gehabt hatte.
Elisabeth, glücklich, die uneingeschränkte Aufmerksamkeit ihres Gatten errungen zu haben, gab zwitschernd noch einmal ihre kurze Begegnung im Haus der Putzingers zum Besten. Dabei konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, das Ganze mit der ihr angeborenen Theatralik auszuschmücken, indem sie das zufällige Zusammentreffen verlängerte, Helgas umsichtiges Handeln betonte und deren besonderen Mut herausstellte: „Also, das eine weißt, Gusterl. Ich hätte mich vor so vielen schmutzigen Männern am Abend garantiert gefürchtet.“ Als sie ihren Bericht beendet hatte und ihrem Gatten mit einem Lächeln signalisierte, wie sehr es sie freute, unvermittelt in das
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