Honigtot (German Edition)
einhergehenden Eigenständigkeiten schätzen gelernt.
Als junge, unmündige Stipendiatin war sie im Mozarteum in ihren Bewegungen stets an der kurzen Leine gehalten worden. Bei ihren ersten Karriereschritten hatte ihr das Kollegium einen Beobachter zur Seite gestellt, den der Stiftungsrat dazu auserkoren hatte, die Pfründe des Studiums zu überwachen. Der Mann war ihr tatsächlich auf Schritt und Tritt gefolgt. Dies war ihr mehr als nur lästig gewesen, zudem er in seinem schäbigen Anzug einen recht unangenehmen Geruch verbreitet hatte und Elisabeth deshalb ständig einen großen Vorrat an Parfüm mit sich herumgetragen hatte. Immerhin hatte man nach ihren ersten Erfolgen weitere Finanzmittel aufgebracht, die es erlaubten, dass ihre Mutter Maria, die lediglich eine kleine Kriegerwitwenrente bezog, sie fortan als Anstandsdame begleiten durfte.
Für ihre gottesfürchtige Mutter Maria war die aufregende und hektische Welt der Oper, in die sie durch ihre Tochter geraten war, kaum je fassbar geworden. In einem langen Rock und mit wollenem Schultertuch wartete sie wie das Versatzstück einer vergessenen Aufführung hinter den Kulissen. Mit ungläubigem Blick betrachtete sie die vielen Menschen, die grell geschminkt und oft nur leicht bekleidet zwischen den einzelnen Akten achtlos an ihr vorüberhasteten. Aber sie äußerte nie ein Wort des Tadels, bewunderte ihre Tochter und genoss das stille Glück, mit ihr vereint zu sein.
Wenn es also um ihre persönlichen Freiheiten ging, so reagierte Elisabeth durchaus empfindlich. Es fehlte wahrlich nicht viel und der erste Streit hätte das junge Eheglück getrübt.
Aber neben der Musik war auch Spontanität eine Gottesgabe - vorausgesetzt, sie kam im richtigen Augenblick zum Einsatz. Elisabeth war eine Meisterin in dieser Disziplin. Einem jähen Impuls folgend, sprang sie auf, lief um den Tisch herum zu ihrem Gatten und legte ihm beide Arme um den Hals. Ihren schmalen Kopf fest an seine Wange gedrückt, gurrte sie: „Ach mein Liebster, lass uns nicht länger über diese schrecklichen Dinge sprechen. Wiederholungen machen die Dinge nur beim Üben besser , sagt mein Impresario immer. Ich kann schließlich nichts dafür, dass dieser Hudler zu der Helga wollte. Schau, ich versprech dir ganz fest, dass ich nie mehr ohne das lange Hanserl als Begleitung ausgehen werde. Alles gut?“ Gustav atmete den süßen Duft ihrer Haut, notierte im Geiste zerstreut, dass sie den richtigen Namen des Mannes schon wieder vergessen hatte, und streckte die Waffen.
Ein anschließender Kuss auf die Wange ihres Gatten glättete die Wogen gänzlich, trotzdem sah sich Gustav bemüßigt nachzusetzen: “Es ist gut, Elisabeth. Aber vergiss nicht, dass du mir versprochen hast, niemandem ein Wort darüber zu verraten, dass du gestern in dem Haus in Utting gewesen bist. Und schon gar kein Wort zu Ottilie. Ich spreche mit Helga. Sie wird verstehen, dass ich solcherlei in diesen unruhigen Zeiten für gefährlich halte. Vor allem solange dieser Hitler auf der Flucht ist. Gut, dass dich Helga unter meinem Namen vorgestellt hat.“
Dann fiel ihm noch etwas ein: „Dieser Chauffeur, hat er etwas bemerkt?“
Wo andere in eine Denkerpose verfielen, zog Elisabeth nur ihre entzückende Nase kraus. „Ich denke nicht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Wagen erst in den Hof gefahren kam, als die Herren schon im Flur standen. Da hat er, wenn überhaupt, bestenfalls den Hinterkopf gesehen. Um ihn brauchst du dir keine Gedanken zu machen, mein Gusterl. Soll ich dir jetzt etwas auf dem Pianoforte vorspielen?“
* * * * *
Nur einen Tag später, dem 11. November, stürmte Ottilie in die Küche. Bertha stand am Herd, Hans saß am Tisch und reparierte den lockeren Griff einer Pfanne.
„Jessas!“, verkündete Ottilie ihre triumphalen Neuigkeiten, die sie vom Wochenmarkt mitgebracht hatte. „Jetzt hams´n g´schnappt, den feinen Herrn Hitler. Bei den Putzingers hat er sich versteckt, in Utting draußen. Im Schlafanzug und Frotteemantel vom Hausherrn ham´sen ab´gführt. Des hätt´ ich gern g´sehn, wo der Herr Putzinger doch mindestens einen halben Meter höher und breiter is als des halbe G´stell. Ein Wachtmeister aus Utting war´s, zam mit dreißig Polizisten aus München. Ich weiß gar net, wozu es für den Heini so viele Polizisten brauchen dat.“ Ottilie verpasste ihrem Hans eine liebevolle Kopfnuss und ergänzte: „Jetzt ko sich dein Bruder Franz aber warm anziehen. Hoffentlich sperrn´s die
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